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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher
Autoren: Diccon Bewes
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Bevölkerungsdichte Europas auf. Es ist also
fast so dicht besiedelt wie Nordrhein-Westfalen (524 Einwohner pro
Quadratkilometer) und dichter als Holland (395 Einwohner pro
Quadratkilometer). Seltsamerweise hat man aber nicht den Eindruck, dass die
Landschaft zugebaut ist, vielleicht weil viele Leute in Wohnungen und nicht in
Einfamilienhäusern leben. Allerdings könnte die Tatsache, dass die meisten
Schweizer so eng beisammen wohnen, erklären, warum sie gern ein wenig Abstand
halten: Wenn Wohnraum knapp ist, erscheint der persönliche Freiraum umso
kostbarer.
    Das Mittelland ist ein Vorgebirge, also keineswegs
flach. Im Grunde ist es eine Hügellandschaft mit Flüssen, Seen und Tälern, die
in vielen flacheren Ländern eine Menge natürlicher Hindernisse für den Aufbau
eines funktionsfähigen Transportwesens bilden würden. In der Schweiz gab es
aber sehr viel größere Barrieren in Gestalt der Alpen, die mit Straßen und
Gleisen überwunden wurden, welche den Rest der Welt vor Neid erblassen lassen.
Seit der Öffnung des Gotthardpasses im 13. Jahrhundert wacht die
Schweiz über die transnationalen Hauptrouten Westeuropas. Ein
Hochgeschwindigkeitskorridor für Züge und Kraftfahrzeuge durch das Mittelland
führt zu den wichtigen Transalpintunneln. Da die Schweiz kein EU -Mitglied ist, entbehrt es nicht einer gewissen Ironie,
dass sie wesentliche Transportwege der Europäer kontrolliert. Und zwar nur
wegen dieser Berge, der wahren Scheide zwischen Mittel- und Südeuropa.
    Die Schweizer Vorstellung von Nord und Süd ist leicht
zu begreifen, wenn man die Kategorie oben und unten beiseite lässt. Für viele
Nichtschweizer ist Norden gleichbedeutend mit oben und Süden mit unten. Man
fährt rauf nach Hamburg oder Norwegen und runter nach München oder Italien. Für
die Schweizer geht es dabei jedoch nicht um die Richtung, sondern um
Höhenunterschiede. So fährt der Berner runter (nordwärts) nach Basel, aber rauf
(südwärts) nach Interlaken. Da aber ein Großteil der Schweiz in den oder nördlich
der Alpen liegt, ist der einzig wirklich südliche Landesteil der
italienischsprachige Kanton Tessin (Ticino) – kein Wunder, dass sich die
Tessiner vom Rest des Landes abgeschnitten fühlen. Wobei das Tessin eindeutig
integriert ist im Vergleich zu Graubünden, dem größten Kanton, der die
geringste Bevölkerungsdichte aufweist. Wegen seiner isolierten Lage hoch oben
in den Ostalpen gehört er weder zum Norden noch zum Süden, ist aber zentral für
die schweizerische Sicht des eigenen Landes.
    Wer nicht im schicken St. Moritz oder in Klosters Ski
fahren geht oder zum Weltwirtschaftsgipfel nach Davos reist, hat von Graubünden
wahrscheinlich noch nie gehört. Während die meisten Ausländer in den Bergen der
inneren Schweiz, also etwa in den Bergen um Luzern und im Berner Oberland,
Ferien machen, verbringen die Einheimischen ihren Urlaub gern in der
(relativen) Wildnis des Engadin mit dem einzigen Nationalpark des Landes. Doch
so schön Graubünden sein mag, noch interessanter ist die Region aus
linguistischer Sicht, denn dank dem Rätoromanischen, einem lebenden Nachfahren
des Lateinischen, ist sie der einzige dreisprachige Kanton. Für rund 35 000
Menschen ist das Rätoromanische – auch Rumantsch oder Romanisch – die
Hauptsprache: eine kleine Gruppe, die sich dennoch fünf Dialekte leistet. Seit
einem Referendum 1938
gilt es als Landessprache, aber weil in der Schweiz alles etwas komplizierter
ist, fungiert es nicht überall als Amtssprache.
    Laut einer typisch schweizerisch haarspalterischen
Definition gilt es nur dort als Amtssprache, wo die Behörden in Kontakt mit
Romanischsprachigen treten. Bundesgesetze und andere offizielle Verlautbarungen
müssen nicht auf Romanisch erscheinen, und außerhalb von Graubünden begegnet
man der Sprache kaum. Im Vergleich zu den Rätoromanen gibt es insgesamt doppelt
so viele Bürger, die Englisch als ihre Muttersprache angeben, aber immerhin
haben Erstere ein modernes linguistisches Gütezeichen vorzuweisen: Seit 2007
können Romanischsprechende Google und Microsoft Office in ihrer Sprache benutzen.
    Mit seinen verschiedenen Sprachen (die große Mehrheit
spricht Deutsch) und einer klaren, aber herzlichen religiösen Spaltung ist
Graubünden eine Art Schweiz im Kleinen. Ehe man 1803 beschloss, sich den
Eidgenossen anzuschließen,
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