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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher
Autoren: Diccon Bewes
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Schweizer ist das Matterhorn jedoch ein sofort erkennbares
Symbol ihres Landes, obwohl sie es mit den Italienern teilen müssen. Der Berg
liegt nämlich nicht etwa mitten in der Schweiz, sondern mitten in der Walachei,
genauer gesagt an der schweizerisch-italienischen Grenze. Das heißt, die Reise
dorthin ist keine Kaffeefahrt: Von Bern aus zum Beispiel muss der Bahnreisende
zwei Mal umsteigen, jedes Mal in einen kleineren, langsameren Zug, um durch
immer tiefere Täler und Schluchten nach Zermatt und noch weiter hinauf zu
gelangen. Aber es ist die Mühe wert. Aus einem ganz einfachen Grund – die
Aussicht.
    Das Matterhorn überragt buchstäblich seine
Nachbargipfel. Nicht wegen seiner Größe, obwohl es mit 4478 Metern nicht gerade
ein Maulwurfshügel ist, sondern weil es kühn und einsam aufragt, ohne dass
andere Gipfel das Bild stören. Es wirkt so majestätisch, weil man den ganzen
Berg von der Talsohle bis zum Gipfel betrachten kann. Und diesen Weg von ganz
unten nach ganz oben hat als Erster ein Engländer zurückgelegt. 1865
führte Edward Whymper eine Seilschaft zur Erstbesteigung auf das Matterhorn,
allerdings kamen dabei vier Bergsteiger ums Leben. Die meisten heutigen
Besucher begnügen sich gern mit dem Ausblick vom Zug oder von der Endstation
der Gornergratbahn, wo man nicht nur das Matterhorn sieht, sondern auch den
mächtigen Gornergletscher und das Monte-Rosa-Massiv mit der schneebedeckten
Dufourspitze, den mit 4634 Metern höchsten Berg der Schweiz. Angesichts dieses Bergpanoramas glaubt man
kaum, dass es Luftlinie nur 70 Kilometer nach Ascona sind, mit 193 Metern über dem Meeresspiegel der tiefste
Punkt der Schweiz, was einem Höhenunterschied von 4400 Metern zwischen Essen
und Köln entsprechen würde. Solche Extreme so nah beieinander zeigen, wie
kompakt die Schweiz ist, aber auch welche Hindernisse möglicherweise selbst bei
der kürzesten Reise überwunden werden müssen. Allerdings waren die Schweizer
nie ein Volk, das sich von ein paar Bergen hätte aufhalten lassen.
    Wenn es ein Datum gibt, das die Entschlossenheit der
Schweizer demonstriert, ihre Landschaft zu erobern, ist das der 25. Juni 1930. Das Ereignis dieses Tages ist in der Geschichte des Schweizer Transportwesens
noch nicht einmal so herausragend. Weder handelte es sich um die Eröffnung des
Gotthardtunnels noch um die Fertigstellung der ersten Bergbahn Europas; nein,
es war die Jungfernfahrt des Glacier Express von Zermatt nach St. Moritz. Die
Idee, zwei Nobelskigebiete zu verbinden, mag banal erscheinen, bis man einen
Blick auf die Karte wirft: Die beiden Orte befinden sich an entgegengesetzten
Enden des Landes, dazwischen erheben sich eine ganze Menge Berge. Fast wirkt
es, als hätte jemand beschlossen, die beiden Punkte auf der Landkarte
miteinander zu verbinden, egal was dazwischenliegt. Zweimal ist ein
Höhenunterschied von 1400
Metern zu überwinden; die Strecke hat also etwas von einer groß angelegten
Achterbahn, allerdings nicht was die Geschwindigkeit betrifft. Es handelt sich
um den wohl langsamsten Express der Welt – glazial ist dafür das passende
Adjektiv, auch die Gletscher haben sich nicht von heute auf morgen verschoben –, aber das gemächliche Tempo und die Panoramawaggons mit Glasdach sind ideal,
um sich in Ruhe die Alpen anzusehen.
    Das Besondere am Glacier Express sind weder die 291
Brücken noch die 91
Tunnel, ja nicht einmal die Tatsache, dass er trotz Schnee auch im Winter
verkehrt. Das Erstaunliche ist vielmehr, dass an der Strecke keine größeren
Orte liegen, die den Bau einer solchen Schienenverbindung rechtfertigen würden.
Die beiden größten Städte, Brig und Chur, sind durch Hauptstrecken an das
Schienennetz angebunden, das heißt, der Express bedient im Wesentlichen nur ein
paar Dörfer – und die Touristen, die sich das Erlebnis gönnen. Und ebendas ist
der springende Punkt. Denn zwar verkehren auch reguläre Züge, die in jedem Dorf
halten, auf den Gleisen, aber der Touristenexpress macht die Linie rentabel. In
der Hochsaison muss man eine ganze Weile im Voraus einen Sitzplatz reservieren,
und Stehen ist nicht erlaubt (nicht, dass man siebeneinhalb Stunden lang stehen
möchte).
    Vom Fuß des Matterhorns bei Zermatt tuckert die Bahn
das flache Rhônetal, geradezu eine Rennstrecke, bis nach Brig hinunter. Dann
geht’s bergauf über den Oberalppass – das heißt
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