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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier
Autoren: Charles Dickens
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ein Mann hereinschaute, der mich sehr ernst und geheimnisvoll zu sich winkte. Und dass der Mann derjenige war, der als Zweiter von den beiden über den Piccadilly gegangen war und dessen Gesicht die Farbe von ungeklärtem Wachs hatte. Die Gestalt, nachdem sie mich herbeigewinkt hatte, zog sich zurück und schloss die Tür. Mit kaum weniger Zwischenzeit, als nötig war, um das Schlafzimmer zu durchqueren, öffnete ich die Tür zum Ankleidezimmer und schaute hinein. Eine brennende Kerze hielt ich bereits in der Hand. Ich verspürte keine innere Erwartung, die Gestalt im Ankleidezimmer vorzufinden, und ich sah sie dort auch nicht.
    In dem Bewusstsein, dass mein Diener staunend dastand, drehte ich mich zu ihm um und sagte: »Derrick, würden Sie es glauben, dass ich mit meinem kühlen Verstand mir eingebildet habe, ich hätte gesehen, wie ein …« Als ich ihm meine Hand auf die Brust legte, zuckte er zusammen, zitterte furchtbar und rief: »O Gott, ja, Sir! Dass ein Toter Sie herbeigewinkt hat!«
    Nun glaube ich nicht, dass dieser John Derrick, mein getreuer und ergebener Diener seit über zwanzig Jahren, den Eindruck gehabt hatte, eine derartige Gestalt gesehen zu haben, bis ich ihn berührte. Die Veränderung an ihm war so bestürzend, dass ich völlig überzeugt bin, dass er genau in diesem Augenblick seinen Eindruck auf irgendeinem geheimnisvollen Weg von mir empfangen hatte.
    Ich bat John Derrick, den Brandy zu holen, und gab ihm ein Gläschen und war froh, selbst auch eines zu trinken. Von dem, was der Erscheinung jener Nacht vorausgegangenwar, erzählte ich ihm kein einziges Wort. Als ich darüber nachdachte, war ich absolut sicher, dass ich das Gesicht niemals zuvor gesehen hatte, außer bei dieser einen Gelegenheit am Piccadilly. Indem ich einen Vergleich anstellte zwischen seinem Gesichtsausdruck, als er mich von der Tür herbeiwinkte, und dem Gesichtsausdruck, als er zu mir hochgestarrt hatte, während ich am Fenster stand, kam ich zu dem Schluss, dass er beim ersten Anlass beabsichtigt hatte, sich in mein Gedächtnis einzuprägen, und dass er beim zweiten sicherstellen wollte, dass ich mich sofort an ihn erinnern würde.
    Mir war in jener Nacht nicht besonders wohl, wenn ich auch eine schwer zu erklärende Gewissheit verspürte, dass die Gestalt nicht wiederkehren würde. Bei Tagesanbruch fiel ich in einen tiefen Schlaf, aus dem mich John Derrick aufweckte, der an mein Bett trat und ein Blatt Papier in der Hand hielt.
    Dieses Blatt Papier war anscheinend an der Haustür der Gegenstand einer Auseinandersetzung zwischen dem Überbringer und meinem Diener gewesen. Es war eine Vorladung, als Geschworener an einer Sitzung des Zentralen Strafgerichtshofes im Old Bailey teilzunehmen. Nie zuvor war ich als Geschworener vorgeladen worden, und das wusste John Derrick sehr wohl. Er glaubte – und ich bin mir zu dieser Stunde nicht sicher, ob mit oder ohne Grund –, dass die Geschworenen gewöhnlich aus niedrigeren Berufen als dem meinen ausgewählt wurden, und hatte sich daher zunächst geweigert, die Vorladung entgegenzunehmen. Der Mann, der sie überbracht hatte, ging die Angelegenheit sehr kühl an. Er meinte, meine Anwesenheit oder Abwesenheit hätte nichts mit ihm zu tun; hier wäre die Vorladung; ich sollte damit verfahren, wie ich wollte, aber auf meine eigene Gefahr und nicht auf seine.
    Einen oder zwei Tage lang war ich unentschlossen, ob ich auf diese Aufforderung antworten oder sie gar nicht beachten sollte. Ich war mir nicht der geringsten Voreingenommenheit, Abneigung oder Anziehung in die eine oder andere Richtung bewusst. Darüber bin ich mir so sicher wie über jede andere Aussage, die ich hier mache. Schließlich entschied ich mich, hinzugehen, um die Monotonie meines Lebens zu unterbrechen.
    Der verabredete Morgen war ein rauer Novembermorgen. Im Piccadilly hing dichter brauner Nebel, und östlich von Temple Bar wurde er geradezu schwarz und äußerst bedrückend. Ich erblickte die Gänge und Treppenhäuser des Gerichtsgebäudes mit Gas flackernd beleuchtet, und auch das Gericht selbst war so erhellt. Ich
glaube,
dass ich, ehe ich von den Beamten in den Old Court geführt wurde und die dicht gedrängte Menge sah, nicht wusste, dass an jenem Tag die Verhandlung gegen den Mörder geführt werden sollte. Ich
glaube,
dass ich, bis man mir mit erheblichen Schwierigkeiten einen Weg in den Old Court gebahnt hatte, nicht wusste, in welche der beiden Gerichtsverhandlungen mich meine Vorladung bringen würde.
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