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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier
Autoren: Charles Dickens
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hinter den dreien und winkte mich herbei. Sobald ich auf sie zuging und in ihre Konversation eingriff, zog er sich unverzüglich zurück. Dies war der Anfang einer gesonderten Reihe von Erscheinungen, die sich auf den langen Raum beschränkten, in dem wir zusammengesperrt waren. Wann immer eine Gruppe meiner Mitgeschworenen die Köpfe zusammensteckte, sah ich den Kopf des Ermordeten mitten unter ihnen. Wann immer ihr Vergleich der Aufzeichnungen sich gegen ihn zu wenden schien, winkte er mich, feierlich und keinen Widerspruch duldend, zu sich.
    Man wird sich erinnern, dass ich bis zum Zeitpunkt der Vorlage der Miniatur am fünften Tag des Prozesses die Erscheinung niemals im Gerichtssaal wahrgenommen hatte. Nun traten drei Veränderungen ein, da die Verteidigung ihre Klageerwiderung vorbrachte. Zwei davon will ich als Erstes zusammen erwähnen. Ab jetzt weilte die Gestalt ständig im Gerichtssaal, und sie wandte sich niemals an mich, sondern stets an die Person, die gerade sprach. Zum Beispiel: Man hatte dem Ermordeten die Kehle in einer geraden Linie durchgeschnitten. Im Eröffnungsplädoyer der Verteidigung wurde angedeutet, der Ermordete könnte sich selbst diese Wunde beigebracht haben. In diesem Augenblick erhob sich die Gestalt, deren Hals sich in dem grausigen, vorher erwähnten Zustand befand (den sie bisher verborgen hatte), am Ellbogen des Sprechenden, fuhr sich mit heftigen Bewegungen kreuz und quer über die Gurgel, mal mit der rechten Hand, mal mit der linken, und gab so mit Vehemenz dem Sprechenden zu verstehen, wie unmöglich es war, sich diese Art der Wunde selbst beizubringen. Oder ein anderes Beispiel: Eine Leumundszeugin erklärte unter Eid, der Gefangene sei der freundlichste Mensch auf Erden. In diesem Augenblick baute sich die Gestalt vor ihr auf, schaute ihr geradewegs in die Augen und deutete mit gerecktem Arm und ausgestrecktem Finger auf die üblen Züge des Gefangenen.
    Die dritte Veränderung, die nun hinzukam, beeindruckte mich als die deutlichste und auffälligste von allen. Ich will darüber nicht theoretisieren; ich will sie präzise benennen und es dabei belassen. Obwohl die Erscheinung selbst von denjenigen, an die sie sich wandte, nicht wahrgenommen wurde, war doch ihre Annäherung an diese Personen unweigerlich mit einiger Unruhe oder Verstörung auf deren Seite verbunden. Mir schien, als würde die Gestaltvon Geboten, die sich mir nicht erschlossen, daran gehindert, sich anderen vollständig zu entdecken, und als könnte sie dennoch unsichtbar, stumm und finster deren Gedanken überschatten. Als der erste Anwalt der Verteidigung jene Selbstmordhypothese vorbrachte und die Gestalt am Ellbogen des gelehrten Herrn stand und sich mit so grausiger, sägender Geste über den durchtrennten Hals fuhr, ist unbestreitbar, dass der Verteidiger in seiner Rede ins Stocken kam, einige wenige Sekunden den Faden in seinem ausgeklügelten Plädoyer verlor, sich mit dem Taschentuch die Stirn wischte und außerordentlich bleich wurde. Als die Erscheinung der Leumundszeugin gegenüberstand, folgten deren Augen unzweifelhaft der Richtung des deutenden Fingers und ruhten dann mit großem Zögern und mit Besorgnis auf dem Gesicht des Gefangenen. Zwei weitere Beispiele mögen ausreichen. Am achten Tag des Prozesses kam ich nach der Pause, die jeden Tag früh am Nachmittag für wenige Minuten der Ruhe und einige Erfrischungen eingelegt wurde, mit den anderen Geschworenen ein wenig vor dem Erscheinen der Richter in den Gerichtssaal zurück. Während ich noch in der Geschworenenbank stand und mich umsah, meinte ich, die Gestalt wäre nicht anwesend, bis ich, als ich zufällig meine Augen zur Galerie erhob, bemerkte, wie sie sich dort vorbeugte und über eine sehr ehrbar wirkende Frau lehnte, als wollte sie nachsehen, ob die Richter bereits wieder auf ihren Plätzen säßen oder nicht. Unmittelbar darauf schrie die Frau auf, fiel in Ohnmacht und wurde herausgetragen. Ähnlich erging es auch dem ehrwürdigen, weisen und geduldigen Richter, der der Verhandlung vorsaß. Als die Plädoyers gehalten waren und er sich zurücklehnte und seine Papiere ordnete, um seine Zusammenfassung zu geben, trat der Ermordete durch die Tür der Richter ein, begabsich zum Tisch Seiner Lordschaft, schaute ihm erwartungsvoll über die Schulter und blickte auf die Seiten mit seinen Aufzeichnungen, die jener gerade durchblätterte. Da ging eine Veränderung mit dem Gesicht seiner Lordschaft vor; seine Hände hielten inne, und jenes
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