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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier
Autoren: Charles Dickens
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Aber das darf man nicht als positive Zusicherung verstehen, denn in beiden Punkten bin ich mir in meinen Gedanken nicht völlig sicher.
    Ich nahm meinen Platz an dem für die wartenden Geschworenen reservierten Ort ein und sah mich im Gerichtssaal um, so gut es mir die schweren Schwaden des Nebels und der Atemluft erlaubten. Ich bemerkte, dass schwarzer Dunst wie ein trüber Vorhang draußen vor den großen Fenstern hing, und ich bemerkte das erstickte Geräusch von Rädern auf dem Stroh oder den Rinden, mit denen die Straße bestreut war; auch das summende Gemurmel der im Saal versammelten Menschen, das gelegentlichein schriller Pfiff oder ein lauteres Lied oder ein den Rest übertönender Schrei zerschnitt. Schon bald darauf traten die Richter, zwei an der Zahl, ein und nahmen Platz. Das Gemurmel im Gerichtssaal war ehrfürchtig verstummt. Es wurde die Anweisung gegeben, den Mörder dem Gericht vorzuführen. Er erschien. Und im gleichen Augenblick erkannte ich ihn als den Ersten der beiden Männer, die den Piccadilly hinuntergegangen waren.
    Hätte man dann gleich meinen Namen aufgerufen, so bezweifle ich, dass ich darauf hörbar hätte antworten können. Aber ich wurde als ungefähr Sechster oder Siebter aufgerufen, und zu diesem Zeitpunkt war ich schon wieder in der Lage, »Hier!« zu sagen. Nun, Leser, passe gut auf. Als ich in die Geschworenenbank trat, wurde der Gefangene, der aufmerksam zugesehen hatte, ungeheuer erregt und winkte seinen Anwalt herbei. Der Wunsch des Angeklagten, mich als Geschworenen abzulehnen, war so offenkundig, dass eine Pause eintrat, während welcher der Anwalt, die Hand auf der Anklagebank, mit seinem Mandanten flüsterte und den Kopf schüttelte. Ich habe anschließend von diesem Herrn erfahren, dass dessen erste erschreckte Worte an ihn waren: »Unter allen Umständen diesen Mann ablehnen!« Aber da er keinen Grund dafür angab und auch eingestand, dass er nicht einmal meinen Namen gekannt hatte, ehe der aufgerufen wurde und ich erschien, wurde dem nicht stattgegeben.
    Sowohl aus dem bereits erklärten Grund, dass ich es vermeiden möchte, die unheilsame Erinnerung an jenen Mörder wiederzubeleben, als auch, weil ein in alle Einzelheiten gehender Bericht über diesen langen Prozess für meine Erzählung keineswegs unerlässlich ist, werde ich mich nun genau auf die Vorkommnisse in jenen zehn Tagen und Nächten beschränken, während derer man uns, die Geschworenen,zusammenhielt und die sich unmittelbar auf meine eigene merkwürdige, persönliche Erfahrung beziehen. Denn dafür und nicht für den Mörder möchte ich meine Leser interessieren. Darauf und nicht auf eine Seite aus dem Kalender von Newgate möchte ich ihre Aufmerksamkeit lenken.
    Ich wurde zum Sprecher der Geschworenen gewählt. Am zweiten Morgen des Prozesses ließ ich nach zwei Stunden Beweisaufnahme (ich hörte die Kirchenuhren schlagen) zufällig die Augen über meine Mitgeschworenen schweifen und hatte eine unerklärliche Schwierigkeit, diese zu zählen. Ich zählte sie mehrfach, doch immer mit der gleichen Schwierigkeit. Kurz gesagt, ich fand, dass es einer zu viel war.
    Ich berührte den Arm des Mitgeschworenen, dessen Platz neben mir war, und flüsterte ihm zu: »Tun Sie mir den Gefallen, uns zu zählen.« Er schaute mich ob meiner Bitte überrascht an, wandte dann aber den Kopf und zählte. »Nun«, sagte er plötzlich, »wir sind dreiz …; aber nein, das ist nicht möglich. Nein. Wir sind zwölf.«
    Laut meiner Zählung an diesem Tag waren wir en détail stets korrekt, aber en gros immer einer zu viel. Es war keine Erscheinung – oder Gestalt – dafür verantwortlich zu machen; doch ich hatte nun eine innere Vorahnung von der Gestalt, die sicherlich auftauchen würde.
    Die Geschworenen waren in der London Tavern untergebracht. Wir schliefen alle in einem großen Raum auf separaten Pritschen und waren ständig unter der Aufsicht des Beamten, den man verpflichtet hatte, uns in sicheren Gewahrsam zu nehmen. Ich sehe keinen Grund, warum ich den Namen dieses Beamten verschweigen sollte. Er war intelligent, außerordentlich höflich und zuvorkommend und genoss (was ich mit Freuden vernahm) in der Stadthöchsten Respekt. Er hatte eine angenehme Erscheinung, gute Augen, einen beneidenswerten schwarzen Schnurrbart und eine schöne, klingende Stimme. Sein Name war Mr. Harker.
    Wenn wir abends in unsere zwölf Betten stiegen, wurde Mr. Harkers Bett quer vor die Tür geschoben. Am Abend des zweiten Tages, da ich nicht
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