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Der Schoepfer

Der Schoepfer

Titel: Der Schoepfer
Autoren: Gudrún Eva Mínervudóttir
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ließ. Das war der einzige Weg, etwas in ihm zu befriedigen, das er nicht benennen konnte.
     
    Später am Abend saß sie im Wohnzimmer, das dieser Bezeichnung jedoch kaum gerecht wurde – es handelte sich um einen kleinen Raum neben der Küche mit drei Sesseln und einem Tischchen. Da saß sie, schlief mit halb geöffnetem Mund, und er hatte sie mit ihrem Mantel und einer Wolldecke zugedeckt. Im Schlaf war ihr Gesicht friedlich und kindlich, und mit den leicht geöffneten Lippen erinnerte es an den Gesichtstyp, den er Lovely nannte, wobei dieser Typ nicht annähernd so beliebt war, wie er es seiner Meinung nach verdient hatte. Sie würde alles andere als erfreut sein, wenn sie wieder aufwachte, aber es hatte keinen Zweck, sie zu wecken – in diesem Zustand konnte sie ohnehin nicht nach Hause fahren.
    Sveinn hatte den Reifen gewechselt. Als es ihm endlich gelungen war, das ganze Zeug auseinanderzubauen, stellte sich heraus, dass die Stahlfelge von den Schrauben verbeult war – ihr Vater musste wirklich Bärenkräfte besessen haben –, und
während er den Felgenschlüssel mit dem Hammer und seinem eigenen Körpergewicht traktierte, hatte sie einen Großteil der zweiten Weinflasche geleert. Trotzdem war sie nicht richtig betrunken gewesen, nur von Müdigkeit überwältigt, und als er ihr einen bequemeren Sitzplatz angeboten hatte, war sie fast sofort eingenickt. Davor hatte er allerdings noch rausgekriegt, dass ihr Aufenthalt in Akranes Teil einer mysteriösen Suche nach Rettung für ihre zwei Töchter war. Oder was hatte sie ihm sagen wollen?
    »Meine Töchter haben beide den Halt verloren, obwohl sie noch gar nicht richtig angefangen haben zu leben, und ich muss etwas tun«, hatte sie auf seine Frage, was sie hier mache, geantwortet und dann mit zitterndem, zum Weinen verzogenem Mund den Kopf geschüttelt.
    Da hatte sie sich das einzige Mal während des gesamten Abends wirklich verwundbar gezeigt und ihm ein wenig Hässlichkeit offenbart. Anscheinend gehörte sie zu jenen, die sich in den Schlaf trinken können, ohne die Selbstbeherrschung zu verlieren.
    Jetzt setzte er sich vor ihr auf den Tisch, tastete unter der Decke nach ihrer rechten Hand und fand sie auf ihrem Oberschenkel, mit geöffneter Handfläche und leicht gekrümmten Fingern. Er zog die Hand unter der Decke heraus und betrachtete sie. Die Frau, die sich als Ólöf vorgestellt hatte, rührte sich nicht. Man hätte meinen können, sie stehe unter Medikamenteneinfluss. Man hätte meinen können, er hätte ihr kein Essen und keine Getränke serviert, sondern sie mit dem Felgenschlüssel erschlagen.
    Durchsichtiger Nagellack, leicht abgeblättert. Ein fast verheilter Schnitt an der Kuppe des Zeigefingers. »Der hat bestimmt ein bisschen geblutet«, dachte er. Die Hand war warm,
und er drehte sie und beobachtete, wie sich die Knochen unter der Haut bewegten.
    Ihre Hände waren nicht seltsam, sondern ganz im Gegenteil völlig normal. Sein Hirn war nur vorhin draußen auf dem Parkplatz noch nicht richtig in Gang gekommen, und genau genommen waren die Hände das, was die Mädchen am allerwenigsten wie Menschen aussehen ließ. Ihre Finger bogen sich in merkwürdige Richtungen, die Handgelenke waren steif, und auf den Handrücken sah man keine Knochen, die sich bewegten. Sveinn wusste nicht, wie er etwas herstellen konnte, das dem glich, was er gerade festhielt und betrachtete.
    Er hatte seine Müdigkeit fast vergessen, aber jetzt überfiel sie ihn mit doppelter Wucht, und er legte Ólöfs Hand auf die Sessellehne, breitete eine Ecke der Decke über dieses erschlaffte Kunstwerk und knöpfte auf dem Weg zum Bett sein Hemd auf.

II
Samstagmorgen
    Lóas Augenlider waren mit Schminke von gestern verklebt. Das Klappern des Briefschlitzes hatte sie geweckt, und jetzt hörte sie, wie sich die Schritte des Briefträgers entfernten. Sie hatte das Gefühl, durch ein ganzes Meer von Ärgernissen zu waten, und musste so dringend aufs Klo, dass sie kaum aufstehen konnte. Ihre Körperhaltung war äußerst unbequem, denn anstatt wie sonst im Dämmerschlaf auf dem Bauch zu liegen, saß sie halb, das Kinn auf die Brust gesunken und die rechte Hand in der Luft baumelnd. Sie zog sie heran, legte sie auf ihre Wange und öffnete dann mithilfe zweier vor Kälte steifer Finger erst das eine und dann das andere Auge, nur um anschließend eine leere Wand anzustarren, eine hellgrüne Tapete mit dunkelgrünem Muster. Lóa schwitzte am Bauch und an den Oberschenkeln, aber ihre Beine waren
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