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Der Schoepfer

Der Schoepfer

Titel: Der Schoepfer
Autoren: Gudrún Eva Mínervudóttir
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zweite Tür hatte. Der Gedanke, dass es sich dabei um die Tür handeln könnte, nach der sie suchte, zog sie in deren Richtung, obwohl sie sich in der Halle nicht wohl fühlte. Fensterlose Räume waren unheimlich, Körper ohne Köpfe waren unheimlich, und dasselbe galt für mehr oder weniger fremde, schlafende Männer. Die Schmach, mit weinblauen Lippen dummes Zeug geredet zu haben und dann
einfach eingeschlafen zu sein, war auch unheimlich, aber zu ungewohnt, als dass Lóa sie an sich heranließ.
    Der Raum hinter der Halle entpuppte sich als eine Art Lager für in Plastikfolie gehüllte Rümpfe und Köpfe, Perücken, große Kanister mit Flüssigkeit, Säcke mit Silikonpulver, Kartons in unterschiedlichen Größen, wasserfeste Farben und Pinsel, aber es befand sich auch ein Waschbecken darin. Blitzsauber, obwohl man sehen konnte, dass dort jahrelang viele Hände gewaschen worden waren – die emaillierte Oberfläche war abgenutzt, und der Stahl schien durch. Lóa starrte in den Abfluss, und dann standen ihre Gedanken plötzlich still, und etwas anderes übernahm die Führung. Sie schloss die Tür, bis sie fest einrastete, zog einen kleinen, mit Farbklecksen beschmierten Holzhocker heran, stieg darauf, zog ihre Hose herunter, tastete mit den Händen nach hinten, bis sie an der Wand Halt fand, und ließ es dann laufen. Sie musste etwas warten, weil ihre Muskeln vom Einhalten verspannt waren, aber am Ende gelang es ihr, den kräftigen Strahl mit wütendem Lärm und schmerzhafter Erleichterung direkt in den Abfluss prasseln zu lassen.
    Als sie wieder vom Hocker stieg und ihre Hose zuknöpfte, fühlte sie sich fast schwerelos. »Innerlich leer wie die Puppen draußen in der Halle«, dachte sie, lachte laut auf, wusch sich die Hände und spritzte Wasser auf die Ränder des Waschbeckens, um die Spuren zu verwischen.
    Sie hatte sich lange nicht mehr so leicht gefühlt, das letzte Mal lange vor dem Tod ihres Vaters, vielleicht sogar vor Margréts Krankheit. Es war eine physische Freude, beruhend auf physischer Erleichterung, doch der Kopf machte kaum einen Unterschied zwischen dieser und einer anderen, erhabeneren Freude. Ihr folgte eine übertriebene Kühnheit und Neugier. Lóa
war immer noch ein Mensch, auch wenn sie in erster Linie eine besorgte Mutter und eine trauernde Tochter war.
    Die Beschriftungen auf den Kartons und Säcken machten sie neugierig: Plaster . Alginade . Skinflex . Und auf den Perücken: Candy-Pink Lisa. Hot-Red Daisy. Raven-Black Lola. Honey-Golden Susie .
    Als Lóa den Lagerraum verließ, stach ihr als Erstes ein riesiges Poster des Da-Vinci-Mannes ins Auge, der allerdings kein Mann war, sondern eine Frau. Sie streckte ihre Beine vor den Kreis und lenkte die Aufmerksamkeit auf ihre vollkommenen Proportionen im Goldenen Schnitt. Es lagen auch Entwürfe, Fotografien einzelner Körperteile, Skizzen und Modelle von den Gestellen im Inneren der Puppen herum. In einer Ecke stand ein kleiner, abgenutzter Schreibtisch mit Computer und Drucker.
    Lóa hatte fast den Eindruck, durch die Werkstatt eines alternden Uhrmachers zu schleichen – alles schien auf die Sublimierung des Geistes durch unablässiges Arbeiten ausgerichtet zu sein. Das Dach der Baracke wölbte sich über ihr wie in einer Kirche, und trotz des schneidenden Neonlichts hatte sie das Gefühl, sich in einem entrückten Heiligtum zu befinden und allein durch ihre Anwesenheit eine uralte Übereinkunft zu brechen.
    Sie spürte ihre Beine kaum, als sie zu der Ecke ging, in der die Puppen hingen, und mit jedem Schritt schien sich der Boden von ihr zu entfernen und durchlässig zu werden. Es hatte etwas Verbotenes, Voyeuristisches, die Puppen so halbfertig zu sehen, abgesehen davon hatte sie gar keine Erlaubnis, hier zu sein. Immerhin waren sie nackt, aber das war nicht die Hauptsache, sondern dass sie keine Gesichter hatten, keine Augen, und Lóa das Gefühl gaben, jemanden anzustarren, der nicht
wusste, dass er beobachtet wurde. Nicht so wie bei Gegenständen, sondern so, als würde man in eine Privatsphäre eindringen.
    Sie waren schön, makellos, bis auf unauffällige Nähte an den Seiten und außen an den Beinen. Sie hatten noch keine Fingernägel, aber an der Form der Finger und Zehen konnte man erkennen, dass Nägel vorgesehen waren.
    Vorsichtig berührte Lóa die Naht am Oberschenkel einer Puppe. Da sie dort hingen, konnte es sein, dass sie noch trockneten, aber die Plastikhaut unter Lóas Fingern war dick und fest, und sie hinterließ keinen
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