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Der Schlitzer

Der Schlitzer

Titel: Der Schlitzer
Autoren: Jason Dark
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sie war für mich so etwas wie ein Mutterersatz, denn meine eigene Mutter war häufig krank. Nun ja, ich war es meiner Tante einfach schuldig, sie zu besuchen. Ich erinnere mich noch sehr genau, denn es war einer der ersten trüben Herbsttage, die den langen Sommer abgelöst hatten. Auf dem Friedhof hielt sich kaum ein Besucher auf, ich war ziemlich allein und hatte schon mit dem Gedanken gespielt, kehrtzumachen, denn das trübe Wetter konnte einem schon das Fürchten lehren. Ich riß mich zusammen, besuchte das Grab, ohne mich dort länger aufzuhalten, auch weil der Nebel immer dichter wurde. Als ich dann ging, das heißt, ich hatte mich gerade umgedreht, da sah ich dann die Gestalt.«
    Da Shelly eine Pause einlegte, konnte ich einspringen. »Moment, Miß Wagner, Sie haben also die Gestalt gesehen. Und Sie gehen davon aus, daß es keine Nebelgestalt war, keine Halluzination.«
    »Nein, nein…«
    Ich forschte noch einmal nach. »Keine Einbildung?«
    »Moment, Mr. Sinclair.« Sie schaute Bill an. »Das habe ich Mr. Conolly auch schon gesagt. Ich habe mir das wirklich nicht eingebildet, glauben Sie mir. Das war kein Gespenst, das war kein Spuk…« Sie biß sich auf die untere Lippe. »Das heißt, die Gestalt sah aus wie ein Gespenst, obwohl sie keines war.«
    »Sie haben das kontrolliert?«
    Nur zögernd nickte sie, um dabei zu fragen: »Wie haben Sie das gemeint, Mr. Sinclair?«
    »Sie sind hingegangen und haben die Gestalt angefaßt.«
    »Nein!« Die Frau schüttelte den Kopf. »Was denken Sie von mir? Das habe ich nicht getan! Um Himmels willen, nein…«
    »Warum nicht?«
    »Weil ich Angst hatte. Stellen Sie sich vor, Mr. Sinclair, ich war allein, von Dunstschwaden umgeben, und plötzlich schälte sich aus ihnen die düstere Gestalt hervor. Da waren meine Nerven schon arg strapaziert.«
    »Du solltest etwas sanfter mit ihr umgehen«, schlug Bill mir vor. »Shelly hat schon gut reagiert, und was sie dir bisher erzählt hat, ist nicht alles gewesen.«
    Ich lächelte sie an. »Pardon, Miß Wagner, aber ich bin nun mal Polizist und muß die Fragen stellen. Es kann durchaus sein, daß wir beide dieselbe Gestalt gesehen haben, deshalb frage ich so intensiv, auch weil ich nach Gemeinsamkeiten suche.«
    Sie schaute auf ihre Hände, als könnte sie aus ihnen Erinnerungen hervorlesen. »Ja, ich möchte es auch und kann ihnen sagen, daß ich einen Mann gesehen habe.«
    »Richtig.«
    Sie verengte die Augen und drehte den Kopf. Dabei glitt ihr Blick in seltsame Fernen, und sie schien nichts anderes mehr wahrzunehmen.
    »Ich bin nahe an ihn herangekommen oder er an mich, so genau weiß ich das nicht mehr. Ich habe zuerst an einen Geist gedacht und spreche auch noch jetzt davon. Je mehr ich jedoch über die Begegnung nachgedacht habe, um so weniger war die Gestalt für mich ein Geist. Es ist seltsam, aber meine Gedanken gerieten in eine völlig andere Richtung. Zudem fielen mir immer mehr Details ein, und auch jetzt kann ich mich daran erinnern. Sehr gut sogar, als wäre es erst gestern gewesen. Es war… wie soll ich sagen«, sie hob die Schultern, »es war irgendwie kein Geist, sondern ein wie gezeichneter Mensch.« Sie lachte etwas verlegen, schaute sich um, aber von uns lächelte keiner, ein Beweis, daß wir ihre Aussagen schon sehr ernst nahmen.
    »Weiter bitte«, sagte ich.
    »Ja, ein Mann«, flüsterte sie. »Er war so nahe bei mir, daß ich seine Gesichtszüge erkennen konnte. Es war kein alter Mann. Ich würde ihn auf vierzig schätzen. Er war dunkelhaarig und hatte ein Durchschnittsgesicht, aber ich weiß nicht, ob er nackt oder angezogen war. Und noch etwas fiel mir auf. Er hielt einen spitzen Gegenstand in der Hand, und zwar in der rechten.«
    »Ein Messer?« fragte ich.
    Sie wiegte den Kopf. »Das dachte ich zuerst auch. Aber ich frage Sie, Mr. Sinclair, seit wann leuchten Messer hell wie Kristalle oder Spiegel? Seit wann?«
    »Da haben Sie recht«, gab ich zu.
    Auch mein Freund Bill nickte, während Suko wie unbeteiligt zwischen uns saß.
    »Tat er etwas mit dem Messer? Griff er sie an?«
    »Nein!«
    »Was machte er?«
    Sie hustete. »Er benahm sich wie ein Fremder. Er schaute sich um, als wäre er zum erstenmal auf diesem Friedhof. Es war seltsam, aber ich hatte das Gefühl, als wollte er die einzelnen Gräber abgehen, was er auch tat und dabei ziemlich dicht an mir vorbeikam, ohne sich jedoch um mich zu kümmern. Er nahm mich gar nicht zur Kenntnis, reagierte anders als ich, denn ich habe ihn sehr wohl bemerkt.
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