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Der Schiffsjunge der Santa Maria

Der Schiffsjunge der Santa Maria

Titel: Der Schiffsjunge der Santa Maria
Autoren: Frank Schwieger
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der hat nur eine Auge, weil ist geblendet worden von Odysseus. Aber«, Jacomo wiegte den Kopf, »ich glaube, er nicht wirklich heißen Polifemo. Nur alle ihn so nennen und er nix dagegen machen.«
    »Wie kommst du darauf?«
    »Die Männer viel erzählen. Ich nicht weiß, ob alles stimmen. Sie erzählen, Polifemo habe dunkel Vergangenheit, habe erlebt viel bose Sachen.«
    »Was für böse Sachen?«
    »Isse viel Gerede«, sagte Jacomo. »Viel erfunden und vielleicht eine bisschen wahr. Ich dir erzähle eine andermal.«
    »Wenn du meinst«, sagte Luis. »Ich muss jetzt eh zur Ampolleta. Du löst mich nachher ab, ja?«
     
    Als vier Stunden später Luis’ Schicht beendet war, versank die Sonne gerade am Horizont. Luis liebte diesen Anblick. Der Himmel und das Meer funkelten dunkelrot. Die drei Schiffe fuhren wie auf einem Purpurteppich. Luis stand vorne am Bug. Über ihm ließ der Passatwind die weißen Segel knattern und schob die Santa Maria unaufhörlich der Sonne entgegen. Luis schaute auf die schäumenden Wellen, die sich unter ihm am Rumpf des Schiffes brachen. Er dachte an das Ziel ihrer Reise, an Indien und an Zipangu. An den Palast des Großen Khan. An Häuser mit Dachschindeln aus purem Gold. An Menschen mit mandelförmigen Augen. An Tiger und Elefanten. Ob er all das jemals sehen würde? Er wünschte es sich so sehr. Und er wünschte sich seinen Vaterzurück, mit dem er all diese Wunderdinge so gerne entdeckt hätte.
    »Wie lange geben wir ihm noch?«
    Luis schaute sich kurz um. Hinter ihm hatten es sich zwei Matrosen auf den Planken gemütlich gemacht. Sie lehnten am Fockmast und tranken verdünnten Wein aus hölzernen Bechern. Luis kannte ihre Namen, es war der alte Diego, der mit der dicken Knollennase, und der dürre Fernando. Der Passat trug ihre Worte direkt in Luis’ Ohren.
    »Wir sind schon viel zu lange unterwegs«, sagte Diego. »Ich sage dir, wir werden Indien nie erreichen.«
    Fernando knurrte zustimmend und trank einen kräftigen Schluck aus seinem Becher.
    »Das Einzige, was wir erreichen werden, ist das Ende der Welt. Den großen schwarzen Abgrund, in den uns der Admiral hineinsteuert.«
    »Du hast recht«, sagte Fernando. »Wir müssen dem Wahnsinn ein Ende bereiten. Sonst sind wir alle verloren.«
    »Ich sage dir«, zischte Diego, »wir fahren direkt in den Höllenschlund! Ich hab schon zweimal versucht, mit Don Christoph zu reden. Aber er hat mich überhaupt nicht angehört.«
    »Wie viele Männer wären auf unserer Seite?« Fernando senkte die Stimme. Luis hatte größte Mühe, die Worte zu verstehen.
    »Ich weiß nicht«, sagte Diego. »Vielleicht zehn oder zwölf.«
    »Das reicht«, sagte Fernando. »Komm mit in den Laderaum! Wir müssen dort einige Dinge bereden. Die Luft hier oben hat zu viele Ohren.«
    Luis starrte auf das Wasser. Er drehte sich nicht um. Steif hielt er sich an der Bordwand fest und hörte, wie sich die Schritte der Männer entfernten.

Werft ihn ins Meer!
    Die Tage vergingen, ohne dass Diego, Fernando oder andere Männer sich gegen Kolumbus erhoben. Allerdings wurde die Stimmung an Bord von Tag zu Tag gereizter. Als dann noch der Wind nachließ und die drei Schiffe in einen Abschnitt des Meeres gerieten, wo der Passat nur schwach und unbeständig blies, konnte man die Unruhe und die Angst bei vielen Männern beinahe mit Händen greifen.
    Immer wieder glaubten einzelne Matrosen, fern am Horizont Land zu erkennen. Dann brach laute Begeisterung aus. Die Männer schrien, umarmten sich oder fielen auf die Knie, um ein Dankgebet zu sprechen. Doch immer wieder wich diese Begeisterung schnell Ernüchterung und Enttäuschung, wenn sich das vermeintliche Land als eine Wolkenbank oder schlicht als Einbildung herausstellte. Vielleicht glaubten die Matrosen auch nur deshalb, so häufig Land zu sehen, weil demjenigen, der als Erster Land erblicken würde, eine hohe Belohnung versprochen worden war. Auf jeden Fall wuchs nachjedem falschen Alarm bei den Matrosen die Verbitterung.
    In diesen Tagen hörte Luis so manchen Fluch, so manche Verwünschung, die die Männer in Richtung Kolumbus schleuderten. Und sie hatten reichlich Zeit, sich Gedanken zu machen, sich zu unterhalten und Pläne zu schmieden, denn in den Tagen der Flaute gab es an Bord kaum etwas zu tun, das sie von ihrer Unzufriedenheit hätte ablenken können.
     
    Es war der 6.   Oktober 1492.   Seit ihrer Abfahrt von den Kanarischen Inseln war ein ganzer Monat vergangen. Sie hatten über zweitausend Seemeilen
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