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Der Schattensucher (German Edition)

Der Schattensucher (German Edition)

Titel: Der Schattensucher (German Edition)
Autoren: Timo Braun
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ihn herum waren und ihm den Genuss zerstörten. Er musste allein sein, am besten bei Sonnenuntergang auf einem abgelegenen Dach sitzen, von dem man die ganze Stadt überblicken konnte. Noch eine Weile würde er hierbleiben und warten. Vielleicht suchte ihn ja doch noch jemand auf. Die letzten Wochen waren rege gewesen. Er hatte gute Aufträge eingeholt. Vielleicht schon zu viele. Wenn es so weiterging, würde ihn bald die halbe Oberschicht von Alsuna kennen.
    »Beeindruckendes Kunststück«, sagte eine Männerstimme hinter ihm. »Nicht sehr moralisch, aber amüsant.«
    »Wie?« Levin drehte sich nicht um, sondern tat, als würde er weiter auf die Menschen achten.
    »Das mit dem Bauern und dem Boten des Ordens. Sehr geschickt.«
    »Ich weiß nicht, wovon Ihr redet.«
    »Ich habe Euch beobachtet. Wie wollt Ihr das erklären?«
    »Ihr habt mich beobachtet, schön. Ist es etwas so Besonderes, dass ein Blinder sich einen Scherz erlaubt?«
    »Nicht doch. Das mit dem Geldbeutel ist nicht schwer. Aber ich frage mich, wie Ihr als Blinder in den Besitz des goldbestickten Taschentuchs des Boten kommt.«
    Levin schwieg und vermied eine ungeschickte Antwort.
    »Ihr wisst schon. Das Tuch, das Ihr Euch in die rechte Tasche gesteckt habt. Der arme Mann wird es wohl erst vermissen, wenn er daheim angekommen ist. Ich bin sicher, er hätte es gerne in die Schale der Rückkehr geworfen.«
    Es war Zeit, sich umzudrehen. Levin tat es vorsichtig, unauffällig. Doch er war sich bewusst, dass sein Gesprächspartner seine Verunsicherung bemerkte. Und er bemerkte sie nicht nur, er ganz allein hatte sie hervorgerufen.
    »Es ist sicher kein schönes Gefühl, so etwas hören zu müssen, wenn man glaubt, völlig unbeobachtet zu sein.«
    »Ihr habt recht. Ich ziehe es vor, an Eurer Stelle zu sein.«
    Während er das sagte, studierte Levin die Gesichtszüge des Mannes genau. Es war ein speckiges, von zwei Narben durchkreuztes Gesicht. Der Mann hatte volle Lippen und zeigte ein breites Grinsen, das eine Zahnlücke zum Vorschein kommen ließ. Dünne Haarsträhnen hingen in seine Stirn. Sehr ungepflegt, wie Levin fand. Er fragte sich, ob der Kerl schon mit diesem unverschämten Grinsen auf die Welt gekommen war. Und er fragte sich, wie es ausgerechnet ihm gelang, unbemerkt zu bleiben. Noch mehr aber fragte er sich, wen er vor sich hatte.
    »Das ist mir bekannt«, fuhr der Mann fort und lehnte sich an die Säule neben Levin.
    »Ach ja? Ihr tut, als wüsstest Ihr alles über mich.«
    »Nicht alles. Aber mehr, als Euch lieb sein kann.«
    »Über einen Blinden wie mich?«
    »Macht Euch nicht lächerlich. Mich braucht Ihr nicht zu täuschen.« Jetzt blickte er zum ersten Mal um sich. »Am Silberbrunnen erwartet Euch mein Herr.«
    Hinter seiner Binde verzog Levin die Augen zu Schlitzen. Das Wort war gefallen. Der Mann hatte den Silberbrunnen erwähnt. Er war ein Wissender, ein möglicher Kunde, aber auch eine Gefahr. Er misstraute Auftraggebern, die ihn zu genau beobachteten.
    »Dann werde ich wohl gleich dort hingehen müssen«, antwortete Levin und versuchte in den Augen des Mannes zu lesen. Es irritierte ihn, dass er darin so wenig fand, nur eben das vage Gefühl von lauernder Gefahr. Das war an sich nichts, was ihn abschreckte. Er lebte mit der Gefahr, er suchte sie, liebte sie, brauchte sie. Sie war eine Partnerin für ihn geworden. Ohne sie gab es kein Leben für ihn. Und doch musste er jedes Mal um sie werben, er musste sie einladen, um sie nicht als Gegnerin zu sehen. »Sein Name?«
    »Darius. Besitzer der Weberei im Südostviertel.«
    »Und Ihr?«
    »Ehemaliger Soldat der Stadtwache.«
    »Gut. Ich …«
    »Ihr gebt Euren Namen nicht preis, ich weiß. Silberbrunnen. Mein Herr erwartet Euch.«
    Der Mann grinste ein letztes Mal, wandte sich ab und verschwand auf der anderen Seite des Gebäudes. Levin blieb zurück und wartete noch einen Moment. Er würde die andere Straße nehmen, sich mit seinem Stock langsam voranklopfen und darüber nachdenken, wie er vorgehen wollte. So tat er es immer. Es funktionierte. Von den unterschiedlichsten Orten kamen sie mittlerweile. Sein Ruf hatte sich verbreitet. Jeder Eingeweihte wusste, dass der Blinde einmal in der Woche bereitstand und Aufträge entgegennahm. Man musste nur das Wort »Silberbrunnen« erwähnen und sich dort einfinden. Fast jeden Auftrag hatte er bislang am Silberbrunnen erhalten. Es war der perfekte Ort. Mitten im Bürgerviertel, geschützt durch Bäume und Mauern. Vielleicht war es der einzige Ort
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