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Der Schattensucher (German Edition)

Der Schattensucher (German Edition)

Titel: Der Schattensucher (German Edition)
Autoren: Timo Braun
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versammelten sich mehrmals die Woche in den vier Hallen des Ordens, die in der Stadt verteilt waren. An diesen Tagen fasteten sie, meditierten über den Steinbildern des Grafen und verlasen die Fünf Ehernen Regeln . Wer im Orden sein wollte, musste seinen Reichtum aufgeben und in die Schale der Rückkehr legen. Sie war für den Tag bestimmt, an dem der Graf wieder in die Stadt einzog. Man würde sie ihm überreichen und damit zeigen, dass der Orden stets auf seine Wiederkehr gehofft und ihm die Treue gehalten hatte. Bis dahin gingen die Boten des Ordens umher und suchten, wen sie überzeugen konnten.
    »Alsuna, du bist gewarnt. Treibe es noch eine Zeit so und die Strafe wird dich gänzlich vernichten. Wer wird über dich weinen, wenn du im Schmerz deiner Krankheit dahinsiechst? Wer wird dich wieder aufrichten? Hast du nicht deinen Erbauer verachtet? Hast du den Unsterblichen nicht verworfen, herabgesetzt? Ich sage dir, Stadt des Ungehorsams, noch ist es Zeit, ihm seine Ehre zurückzugeben. Du hast dich gegen ihn erhoben, hast deinen eigenen Rat über ihn gesetzt. Und er hat dich in seiner Geduld nicht zerschlagen. Er hat dir vor zehn Jahren schon den Boten der Krankheit geschickt, um dich zurückzurufen. An einer eigenen Haut kannst du nun sehen, Stadt des Ungehorsams, wohin sich deine Untreue frisst, wenn du ihr nicht Einhalt gebietest. Ich, Orden der Redlichkeit, Hüter des Ursprungs, fordere dich heraus, mir zu folgen. Ich habe sein Bildnis bewahrt. Ich habe nicht aufgehört, ihn zu ehren. Ich heiße ihn willkommen durch mein Fasten und Weinen. Folge mir, Alsuna!«
    Keiner folgte dem Boten. Viele Zuhörer lachten. Zwei beschimpften ihn, ein paar zogen schnaubend davon. Der Vertreter des Ordens redete weiter von Tradition, von Unterwerfung, von Opfer. Er ging nicht darauf ein, als ein Krüppel am Rand der Menge ihn bat, den Grafen beim Namen zu nennen, ihn zu beschreiben.
    »Dein körperliches Leiden ist die Strafe für deine Verachtung. Hör auf, dich zu erheben, Stadt des Ungehorsams«, antwortete der Bote. Zum dritten Mal hat er die Stadt nun schon so genannt , stellte der Blinde fest. Orden der Redseligkeit wäre ein besserer Name!
    Als der Mann seine Rede beendet hatte und die kleine Menge sich aufzulösen begann, klopfte der Blinde mit dem Stock den Boden vor sich ab und folgte dem Boten, der eben an ihm vorbeigegangen war. Dieser blieb an einem Obststand stehen und begutachtete die ausgelegten Trauben. Der Blinde tappte hinter ihm vorbei, nicht ohne den Boten mit einem »Verzeihung« anzurempeln. Als der Mann den Blinden sah, unterdrückte er einen Wutausbruch und drehte sich wieder zu den Früchten um. Im selben Moment rempelte der Blinde einen alten Bauern an, der ihm entgegenkam. Kurz darauf hörte er den empörten Ausruf des Boten: »Mein Geldbeutel! Wer hat ihn geklaut?« und gleich darauf einen anderen: »Da! Aus der Tasche von dem Alten ragt etwas heraus!« Schnell versammelte sich eine Menge schimpfender, verächtlicher Menschen um den Bestohlenen und den vermeintlichen Dieb und sah zu, wie man den Alten von der Wache abholen ließ.
    Der Blinde wagte nicht, sich umzudrehen und unter der Augenbinde hindurchzuschauen. Vielleicht hätte es keiner gemerkt. Aber vielleicht doch. Was er hörte, reichte ihm. Er beherrschte sein Handwerk noch immer. Und das stellte ihn zufrieden, Levin, den Schattensucher .
    Er drehte eine Runde über den Markt, ergatterte einen Brotlaib und ein Stück edelsten Schimmelkäse. Nur einmal blieb er länger stehen. Er beobachtete zwischen den Menschen hindurch, wie vor dem großen Weinfass eine Magd von ihren Herren bespuckt wurde. Der Winzer und seine Frau hatten wohl das Missfallen eines Kaufmannes auf sich gezogen und waren von der Magd ausgelacht worden. Nur einmal wollte sie sich überlegen fühlen , dachte Levin, als er zusah, wie auch andere Knechte sich beteiligten, sie schubsten und auf den weingetränkten Sandboden hinabstießen. Der Preis für ihren kurzen Übermut war hoch. Schändliche Menschen , dachte er, sehen sich wie etwas Besseres und sind doch viel armseliger als dieses Mädchen. Levin schaute zu, fühlte sich an seine Adoptivschwester erinnert, wollte näherkommen, für einen Augenblick sogar eingreifen. Doch er wusste, dass er das nicht konnte, ging weiter und kehrte zu seinem Platz an der Säule des Senatshauses zurück. In Gedanken war er bei dem Brot und dem Käse in seiner Tasche. Essen würde er später. Nicht hier. Nicht, wenn so viele Menschen um
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