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Der Schattensucher (German Edition)

Der Schattensucher (German Edition)

Titel: Der Schattensucher (German Edition)
Autoren: Timo Braun
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konnte behaupten, jede Form von Kleidungsstück zu besitzen, die in Alsuna existierte. In seinem Keller hingen Lumpen von Bettlern, bestickte Röcke, feine Umhänge, Ledergürtel, Kappen, Schuhe, Stiefel, Sandalen, Narrenhosen, Seidentücher, Soldatenrüstungen, Arbeiterkluft, Metzgerschürzen. Wenn er wollte, konnte er morgen der Mensch sein, zu dem ihn seine Laune machte. Er konnte durch das Kaufmannsviertel spazieren, sich wie ein Edelmann gebärden und sie würden ihn freundlich zurückgrüßen. Er konnte als Nachtwächter das Gasthaus aufsuchen und die Männer anbrüllen, wenn sie sich schlugen. Ja, er konnte vieles sein, vielleicht alles. Das mochte sie ihm nicht glauben und er hütete sich, etwas davon preiszugeben, nur um sie zu überzeugen.
    »Ich habe das Geld, das Ihr mir gegeben habt. Das ist nicht wenig.«
    Sie schwieg wieder und nickte ruhig. Ihr Schweigen, aber noch mehr ihre Ruhe veranlassten ihn aufzustehen. »Nun denn, ich will Euch nicht die Nacht rauben.«
    »Nehmt Euer Geld und hütet es gut.«
    Er ging zurück zum Fenster. Als er hinausgestiegen war, drehte er sich noch einmal zu ihr um. »Es gibt eine Sache, die ich nicht weiß, Senatorin.«
    Sie schaute ihn fragend an, jetzt sah er ihr Gesicht deutlich. Trotz ihres Alters zeigte es wenige Falten.
    »Weshalb seid Ihr Witwe?«
    Es überraschte ihn, dass sich ihre Miene nicht verzog, die Ruhe nicht aus den Augen wich.
    »Wie ich bereits sagte: Ihr habt nichts gegen die Seuche unternommen.«
    Neun Jahre früher …

3. Kapitel
    Alsuna, Jahr 295 nach Stadtgründung
    Sie musste verstehen, dass er eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hatte. Sie würde es verstehen, spätestens dann, wenn er zurückkehrte und getan hatte, was zu tun war. Der Brief, den er ihr hinterlegt hatte, würde sein Herz offenbaren, auch wenn er keine Erklärung enthielt. Jedes Wort hatte er mit solcher Echtheit geschrieben, dass sie keinen Zweifel an seiner Liebe haben konnte. Und wenn er zurück in der Heimat war, würde sie endgültig die Seine werden.
    Eine Weile stellte sich Alvin ihr Haar vor, ihre Zähne, wenn sie lächelte. Dann hob er den Blick und ließ ihn über den Ort wandern, der sich vor ihm erstreckte. Er stand oberhalb des großen Südtors von Alsuna, von wo er den gewaltigen Marktplatz überschauen konnte, der sich in seiner Größe mit dem berühmten Gula Rubens in Faiza messen konnte. Freilich ging es dort hektischer zu, die Luft war heißer, die Gerüche waren intensiver, so hatte man Alvin erzählt. Alsunas Markt lebte allein von seiner beeindruckenden Größe. Er verströmte kein Leben, er regte einen nicht auf, er lag nur vor einem wie ein gleichmäßig wallendes Meer.
    Neben Alvin stand ein alter Mann über die Mauerzinne gebeugt. Er beobachtete die Vorgänge auf dem Platz unten mit ähnlicher Aufmerksamkeit wie Alvin. Als Alvin hinaufgekommen war und die Stadt wie ein staunendes Kind betrachtet hatte, hatte der Alte ihn angesprochen. »Ihr seid neu hier, was? Ich habe lange niemanden mehr gesehen, der hierherkommt, nur um etwas anzuschauen.« Alvin hatte ihm bestätigt, dass er neu in der Stadt war, und der Alte hatte einfach begonnen zu erzählen: von den Menschen, ihrer Mentalität, von den wichtigsten Orten Alsunas.
    Alvin richtete seine Augen zum höchsten Punkt der Stadt. Eine majestätische Festung erhob sich auf einer Anhöhe nördlich von Alsuna. Sie schien fast mit dem sich anschließenden Gebirge zu verschmelzen.
    »Briangard«, sagte der Alte. »Die Heimat des unsterblichen Grafen und die Wiege der ganzen Stadt. Hier nahm Alsuna seinen Anfang. Ein Jammer, dass es zum Zerwürfnis kam.«
    »Ihr glaubt, dass dieser Graf unsterblich ist?«
    »O ja, so sagt man. Er hat sich nie verändert. Seit ich ein kleines Kind bin, ist er ein Mann im reifen Alter. Aber man hat ihn lange nicht gesehen. Er wurde vor drei Jahren aus der Stadt verbannt. Eine jammervolle Geschichte. Manche glauben, er sei inzwischen doch auf irgendeine Weise gestorben.«
    Alvin betrachtete mit großer Erregung den runden Hauptturm, um den sich der Palast und die Festung wie ein Tuch wanden, das grobe Mauerwerk, das wirkte, als sei es aus Fels gemeißelt, die rotbraun gedeckten Spitzdächer. Er ließ seinen Blick vom Palast zur äußeren Burg wandern, über die Mauern hinweg den Berg hinunter, über die ersten Dächer der Stadt und den alten Marktplatz und dann immer weiter in den Süden bis zum neuen Marktplatz, vor dem sie standen. Es war eine Reise durch die wundenreiche
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