Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schattensucher (German Edition)

Der Schattensucher (German Edition)

Titel: Der Schattensucher (German Edition)
Autoren: Timo Braun
Vom Netzwerk:
Doch was noch wichtiger war als das Buch: Sein Einbruch war ein Kunstwerk geworden.

2. Kapitel
    Wie ausgemacht hatte Thekla das Fenster im Schlafgemach offen gelassen. Levin war übers Dach herangeklettert und hockte nun auf dem Fensterbrett. Auf dem Tisch vor dem Fenster leuchtete eine Kerze. Levin ließ das Buch mit einem lauten Schlag auf den Tisch fallen. Die Kerze flackerte wild auf und erhellte den blauen Lederumschlag und die grauen Buchstaben der Aufschrift Gefährliche Pflanzen des Reimutgebirges .
    »Hier ist Euer Buch, Senatorin.« Levin ließ seine Worte aus der Dunkelheit in den Raum steigen. Zunächst folgte nur ein Schweigen. Dann bewegte sich etwas im hinteren Teil des Raums. Jemand erhob sich aus einem Sessel und nahte sich der Kerze. Jetzt sah er das Gesicht der Witwe. Es verriet Anerkennung und Zufriedenheit.
    »Ich danke Euch. Ihr seid unbemerkt geblieben?«
    »Ungesehen. Das ist das Wichtigste.«
    »Für Euch.« Sie befühlte mit der Hand das Buch, wischte den nicht vorhandenen Staub weg und fuhr einige der Buchstaben nach. »Ich nehme an, es ließ sich nicht vermeiden, dass man Euch bemerkte.«
    Levin kletterte zum Fenster hinein, achtete darauf, dass seine Kapuze tief saß, und schritt am Tisch vorbei. »Ihr hättet es mir vorher sagen müssen, dass der Diebstahl unbemerkt bleiben muss.«
    Sie drehte sich nicht um, als er hinter ihr stand. »Der Schattensucher . Vielleicht habe ich Euch überschätzt.«
    »Ich warne Euch, Senatorin. Ich habe Euch gebracht, was Ihr wolltet, und Ihr habt mich noch nicht bezahlt.«
    Sie zögerte nicht. Aus einer Schublade holte sie einen Lederbeutel und schüttete ihn im Kerzenschein aus. Auf dem Tisch bildete sich ein Häufchen dicker Silbermünzen, auf denen das flackernde Gesicht des Grafen sichtbar wurde.
    »Fünfzig Makel. Ihr könnt nachzählen.«
    Levin trat dicht hinter sie, sodass sie seinen Atem spüren musste. Er blickte ihr über die Schulter, dann griff er an ihr vorbei, schob das Geld in den Beutel zurück und nahm ihn zu sich. »Ich vertraue Euch. Ihr seid eine Ehrendame.« Er wandte sich um und setzte sich in den Sessel im hinteren Teil des Zimmers. »Außerdem weiß ich, wo ich Euch finden kann.«
    »Ihr denkt also nicht, dass ich mit dem Buch verschwinden werde?«
    »Verschwinden? Mit einem Kräuterbuch?«
    »Ihr habt es euch angeschaut?«
    »Ich lese nicht«, sagte er und wechselte in einen Plauderton. Thekla drehte sich zu ihm um. Er konnte nur ihre Umrisse sehen, ihre kleine Gestalt, die breiten Hüften.
    »Ihr solltet lesen. Nicht immer nur durch Schatten springen.«
    »Würde es mich reicher machen?«
    »Seht mich an. Ich habe es bis in den Senat gebracht.«
    »Vielleicht solltet Ihr lernen, Euch im Schatten zu bewegen. Wer im Senat ist, wird auch bald wieder draußen sein, wenn er sich nicht anpasst.«
    »Was wisst Ihr schon über den Senat?«
    »Eine ganze Menge.«
    »Schleicht Ihr Euch heimlich in die Sitzungen, um uns zu belauschen? Hinter welcher Säule versteckt Ihr Euch?«
    »Was, wenn ich einer der vielen unauffälligen Bürger bin, die Eure Sitzungen mitverfolgen? Was, wenn ich selbst ein Mitglied des Senats bin? Was wisst Ihr schon? Was wisst Ihr schon über mich oder über Euren Senat?«
    Sie schwieg. Er atmete zufrieden in seinem Sessel. Eigentlich hatte er schon zu viel geredet. Er war bereit zu gehen, aufzustehen, sie aus dem Dunkeln heraus anzulächeln und aus dem Fenster zu steigen. Doch auf einmal redete sie weiter: »Na schön, Ihr seid überall und in jedem. Ihr wisst alles und niemand weiß etwas über Euch. Ihr habt die ganze Stadt in Eurer Hand. Und doch habt Ihr nichts. Wenn Ihr tot seid, wird sich niemand Eurer erinnern. Ihr habt nichts gegen die Seuche unternommen, Ihr habt nichts gegen die Armut getan, nichts gegen die Trennung von Briangard. Nichts habt Ihr.«
    Weil sie ihn nicht sehen konnte, verzog er beleidigt das Gesicht. Was wusste sie schon, was er alles hatte? Was wusste sie von dem Vermögen, das er in einem Abwasserkanal hortete und mit dem er sich ohne Weiteres in den Senat hätte kaufen können? Oder von seinem Keller, in dem er heute Nacht schlafen würde? Gleich würde er losziehen und niemand würde es wahrnehmen, wie er das verlassene Haus am Ostrand der Stadt aufsuchte, in den türlosen Kellerraum schlich, eine Lampe anzündete und sein Museum genoss.
    Er besaß allerlei Kostbarkeiten: Silberstatuen, volle Schmuckkästchen, die er nie öffnete, unzählige Schnitzereien und vor allem Kleider. Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher