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Der Schatten erhebt sich

Der Schatten erhebt sich

Titel: Der Schatten erhebt sich
Autoren: Robert Jordan
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abseits.
    Aufgenommene und Novizinnen knicksten, wenn sie an einer der Aes Sedai vorbeikamen, ließen sich aber ansonsten nicht in ihrer Beschäftigung stören. Sie bewegten sich höchstens ein bißchen schneller. Das war alles. Aber nicht für die Bittsteller. Die schienen alle auf einmal nach Luft zu schnappen. Außerhalb der Weißen Burg, außerhalb Tar Valons, hätten sie vielleicht die Aes Sedai nur für drei Frauen gehalten, deren Alter schwer einzuschätzen war, drei Frauen in der Blüte ihrer Jahre, wenn auch etwas reifer, als ihre roten Wangen erkennen ließen. In der Burg aber gab es keinen Zweifel. Eine Frau, die sehr lange mit der Einen Macht gearbeitet hat, wurde von der Zeit nicht in demselben Maße gezeichnet wie andere Frauen. In der Burg mußte niemand erst nach einem goldenen Ring mit der Großen Schlange Ausschau halten, um eine Aes Sedai zu erkennen.
    Eine Welle von Knicksen ging durch die Ansammlung, und die wenigen anwesenden Männer verbeugten sich steif. Zwei oder drei Leute fielen sogar auf die Knie nieder. Die reiche Kauffrau blickte erschrocken drein, während das Bauernpaar an ihrer Seite mit großen Augen lebende Legenden betrachtete. Wie man mit einer Aes Sedai umging, wußten die meisten nur vom Hörensagen. Es war unwahrscheinlich, daß irgend jemand von den Anwesenden, außer jenen, die in Tar Valon wohnten, schon jemals eine Aes Sedai gesehen hatte, und möglicherweise waren auch die wenigen Bewohner Tar Valons ihnen noch nie so nahe gekommen.
    Aber es waren nicht die Aes Sedai selbst, die Min zum Schweigen brachten. Manchmal, wenn auch nicht oft, sah sie Dinge um Menschen herum, die sie anblickte, Bilder und Auren, die gewöhnlich aufflackerten und Augenblicke später wieder verschwunden waren. Gelegentlich war ihr klar, was sie bedeuteten. Dieses Wissen kam ihr nur selten - viel seltener, als sie solche Dinge sah -, aber wenn ihr etwas klar geworden war, hatte sie immer recht damit.
    Im Gegensatz zu anderen Menschen waren um die Aes Sedai und auch um ihre Behüter herum immer Bilder und Auren zu sehen, die manchmal so wild tanzten und sich änderten, daß es Min schwindlig wurde. Die Vielfalt dieser Bilder spielte allerdings keine Rolle, soweit es darum ging, sie zu verstehen; bei den Aes Sedai wußte sie genauso wenig wie bei anderen, was sie bedeuteten. Aber diesmal erkannte sie mehr, als ihr lieb war, und das ließ sie erschauern.
    Die einzige der drei, die sie erkannte, war Ananda, eine schlanke Frau, deren Haar ihr bis zur Taille reichte. Sie war eine Gelbe Ajah, und ein krankhaft brauner Schimmer hüllte sie ein, verdorrt und von fauligen Rissen überzogen, die tief und tiefer wurden und schließlich in sich zusammenfielen. Die kleine blonde Aes Sedai neben Ananda war eine der Grünen Ajah; das sah sie an den grünen Fransen ihrer Stola. Als sie sich einen Augenblick lang umdrehte, erstrahlte die Weiße Flamme von Tar Valon auf ihrem Rücken. Und auf ihrer Schulter, als ruhe er zwischen den Ranken und blühenden Apfelbaumzweigen, mit denen ihre Stola bestickt war, thronte ein menschlicher Schädel. Der kleine Schädel einer Frau, sauber aus dem Fleisch gelöst und von der Sonne gebleicht. Die dritte, eine mollige, hübsche Frau, die den halben Raum von ihr entfernt stand, trug keine Stola. Die meisten Aes Sedai legten sie nur für irgendwelche Feierlichkeiten um. Die Haltung ihres Kinns und ihrer Schultern sprach für Willensstärke und Stolz. Sie schien die Bittsteller mit kühlen blauen Augen durch einen Schleier von Blut hindurch anzusehen. Rote Rinnsale überzogen ihr Gesicht.
    Blut, Schädel und Strahlenkranz verblaßten im Tanz der Visionen um die drei herum, kehrten zurück und verblaßten erneut. Die Bittsteller schauten ehrfürchtig zu ihnen auf. Sie sahen nur drei Frauen, die die Wahre Quelle berühren und die Eine Macht lenken konnten. Niemand außer Min sah das andere. Niemand außer Min wußte, daß diese drei Frauen sterben würden. Alle am gleichen Tag.
    »Die Amyrlin kann nicht jeden empfangen«, sagte Faolain mit kaum verhohlener Ungeduld. »Ihre nächste öffentliche Audienz wird erst in zehn Tagen stattfinden. Sagt mir, was Ihr wünscht, und ich werde veranlassen, daß Ihr mit der Schwester sprecht, die Euch am besten helfen kann.« Min blickte auf das Bündel in ihren Armen hinunter, zum Teil einfach deshalb, damit sie nicht wieder sehen mußte, was sie bereits gesehen hatte. Alle drei! Licht! Was konnte das bedeuten, wenn drei Aes Sedai am gleichen Tag
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