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Der Schatten erhebt sich

Der Schatten erhebt sich

Titel: Der Schatten erhebt sich
Autoren: Robert Jordan
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ihre Kapuze ganz weit nach vorn gezogen, so daß ihr Gesicht in deren Schatten verborgen blieb. Trotz der Wärme dieses Tages war der Umhang leicht genug, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, jedenfalls nicht bei einer offensichtlich so schüchternen Frau. Und die meisten Menschen waren verschüchtert, wenn sie sich in die Burg begaben. Es war nichts an ihr, was besondere Aufmerksamkeit hätte erregen können. Ihr dunkles Haar war länger als bei ihrem letzten Aufenthalt in der Burg, auch wenn es noch nicht bis an ihre Schultern reichte, und ihr Kleid in Mittelblau mit weißen Jaerecuz-Spitzen am Hals und an den Manschetten mochte durchaus zu einer wohlhabenden Bauerntochter passen, die wie jede andere auch ihre festlichste Kleidung angelegt hatte, wie sie so auf die breiten Stufen zuschritt. Min hoffte jedenfalls, diesen Eindruck zu erwecken. Sie mußte sich ständig zurückhalten, um nicht stehenzubleiben und die anderen anzusehen, ob sie sich anders verhielten. Ich schaffe das schon, sagte sie sich.
    Sie war sicher nicht den ganzen Weg hierher gekommen, um jetzt noch umzukehren. Das Kleid war bereits Verkleidung genug. Diejenigen in der Burg, die sich noch an die junge Frau mit dem kurzgeschnittenen Haar erinnerten, wußten, daß sie immer in Jacke und Hose eines Jungen umherlief und niemals ein Kleid trug. Also mußte schon das als Verkleidung genügen. Sie hatte, was immer auch geschehen mochte, keine andere Wahl.
    Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, je näher sie der Burg kam, und sie verkrampfte immer mehr ihren Griff an dem Bündel, das sie an die Brust gedrückt hielt. Darin befanden sich ihre normalen Kleidungsstücke, ihre guten Stiefel und all ihre Habseligkeiten bis auf das Pferd, das sie in einer Schenke unweit des Vorplatzes zurückgelassen hatte. Mit etwas Glück konnte sie in ein paar Stunden bereits wieder auf dem Wallach sitzen und zur Ostreinbrücke und der Straße nach Süden unterwegs sein.
    Sie freute sich wohl keineswegs darauf, schon so bald wieder auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen, nachdem sie ohne größere Unterbrechung mehrere Wochen lang geritten war, aber hier wollte sie auch nicht bleiben. Sie hatte die Weiße Burg noch nie als gastfreundlichen Ort empfunden, und im Augenblick erschien sie ihr genauso erschreckend wie das Gefängnis des Dunklen Königs im Shayol Ghul. Schaudernd verwünschte sie sich, weil sie an den Dunklen König gedacht hatte. Ob Moiraine wohl glaubt, ich sei nur ihretwegen hierhergekommen? Licht, hilf mir, ich benehme mich wie eine doofe Ziege. Närrische Dinge tun, bloß wegen eines idiotischen Mannes!
    Sie schritt unsicher die Stufen hinauf. Jede war so tief, daß sie zwei Schritte brauchte, um die nächste zu erreichen. Aber dann ging sie im Gegensatz zu den anderen einfach weiter und starrte nicht beeindruckt nach oben die helle Masse der hoch aufragenden Burg an. Sie wollte das hinter sich bringen.
    Die große, runde Eingangshalle wurde fast vollständig von einem Säulengang umschlossen. Doch die mit ihren Petitionen angetretenen Menschen drückten sich in der Mitte ängstlich aneinander und schoben sich langsam unter der leicht gewölbten Decke vorwärts. Der helle Steinboden war durch die Jahrhunderte von unzähligen nervösen Füßen ausgetreten worden. Keiner konnte an etwas anderes denken, als daran, wo sie sich befanden und warum. Ein Bauer und seine Frau, beide in grober Wollkleidung, hatten sich an den schwieligen Händen gefaßt und standen Schulter an Schulter mit einer Kauffrau im Seidenkleid mit Samtbesatz, und ihnen wieder folgte eine Zofe mit einem kleinen silberbeschlagenen Kästchen in den verkrampften Händen, das sie wahrscheinlich als Geschenk ihrer Herrin in die Burg bringen sollte. In anderer Umgebung hätte die Kauffrau sicher auf dieses Bauernvolk herabgesehen, das sich so nahe herandrängte, und sie hätten wahrscheinlich entschuldigend die Hände an die Stirn gehoben und sich vor ihr zurückgezogen. Aber nicht jetzt. Nicht hier.
    Unter den Bittstellern waren nur wenige Männer, was Min aber nicht weiter überraschte. Die meisten Männer hielten es in der Umgebung einer Aes Sedai einfach nicht aus. Jeder wußte ja, daß damals, als es noch männliche Aes Sedai gab, gerade die für die Zerstörung der Welt verantwortlich gewesen waren. Dreitausend Jahre hatten die Erinnerung daran nicht verblassen lassen, wenn auch der zeitliche Abstand viele Einzelheiten verändert hatte. Die Kinder wurden immer noch
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