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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans
Autoren: Ulrich Ritzel
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das Münster aufragte.
    Berndorf trat neben ihn. »Ihre Enkelin ist dort, Dr. Hendriksen«, sagte er und zeigte auf das Münster. »Haben Sie verstanden, was das bedeutet?«
    Hendriksen wandte ihm den Kopf zu. Seine verschwimmenden wasserblauen Augen waren leer. Leer und berechnend zugleich. »Nike ist doch hier. Da steht sie ja«, sagte er und wies auf seine Tochter Anne-Marie.
    »Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Berndorf. »Die Ärzte mögen Sie haftunfähig schreiben. Das ist deren Problem. Aber vor mir spielen Sie nicht den Mielke. Ihr Enkelin ist in Todesgefahr. Sie können etwas für sie tun. Es ist nicht zu viel verlangt.«
    »Ich verstehe die Namen nicht, die Sie mir geben«, sagte
Hendriksen. »Ich bin ein alter Mann. Lassen Sie mich in Ruhe. Nike ist ein braves Mädchen. Die macht keine solchen Streiche.«
    »Es hat keinen Zweck«, sagte Anne-Marie Schülin. Sie berührte Berndorf am Arm, dann zuckte ihre Hand zurück. »Niemals wird mein Vater etwas für einen anderen Menschen tun, nicht wahr, Papa?«
    Hendriksen schüttelte den Kopf. »Ich will schlafen. Lasst mich allein.«
    »Vielleicht kann ich mit diesem Menschen – diesem Thalmann reden«, sagte Anne-Marie Schülin.
     
    Auf dem Münsterplatz waren Kameras aufgestellt, und neben dem Bus der Einsatzleitung vor dem Stadthaus stand ein Übertragungswagen des Privatsenders CNS. Thalmann hielt mit seiner Geisel schon über zwei Stunden den Münsterturm besetzt. Steinbronner hatte das Fernsehgerät und dazu belegte Brote über den Lastenaufzug in die Türmerstube bringen lassen.
    Die Landesschau hatte zwar die Zumutung, eine Geiselnahme live zu übertragen, entrüstet abgewiesen. Aber die CNS-Leute waren sofort eingestiegen, als das Innenministerium angefragt hatte. Ein Mensch mit Rasta-Locken sprach mit weihevoll gedämpfter Stimme in ein Mikrofon. Gerade sei ein Mitarbeiter von Kriminaldirektor Steinbronner mit einer eleganten Frau eingetroffen, sagte er, und dass es ein Raunen in der Menge hinter der Absperrung gebe, weil – wie er gerade erfahre – die elegante, gefasste Frau die Mutter der jungen Tennisspielerin Nike Schülin sei, die oben auf dem Turm als Geisel um ihr Leben zittert.
    »Der Großvater will oder kann nicht«, berichtete Berndorf. »Aber die Mutter möchte reden.« Er nahm das Telefon. Nach längerem Läuten meldete sich Thalmann.

     
    »Dieser Mann Hendriksen oder Twienholt ist zusammengebrochen«, sagte Berndorf. »Er ist nur noch ein seniler Greis. Und er geht nicht vor die Kameras. Die Mutter des Mädchens ist aber bereit, vor den Kameras zu sprechen. Sie hat mir gesagt, sie wisse inzwischen alles. Und sie werde alles sagen.«
    »Ich weiß nicht, ob mir das genügt«, sagte Thalmann.
    »Wie es aussieht, können Sie Hendriksen nicht mehr zur Rechenschaft ziehen. Wir auch nicht. Er versteht nichts mehr. Und wenn Sie ihm die Wahrheit um die Ohren schlagen. Er schaut Sie aus wässerigen blauen Augen an und will seinen Mittagsschlaf. Hören Sie die Tochter an.«
    »Mir gefällt das nicht, Berndorf«, sagte Thalmann. »Ihr wollt mich linken. Sie sollten es besser wissen. Mich legt keiner mehr herein.«
    »Ich hab’ gar kein Interesse daran, Sie reinzulegen«, antwortete Berndorf. »Schauen Sie: Dem alten Kropke haben Sie doch auch nichts getan. Vermutlich, weil er senil ist. Absolut gaga.«
    »Was hat das jetzt mit uns zu tun?«
    »Weil Hendriksen, oder Twienholt, wenn Sie ihn unter diesem Namen besser kennen, sich im gleichen Stadium befindet. Er ist weggetreten. Es hat keinen Sinn, ihn zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Hören Sie seine Tochter an.«

Freitag, 20. Februar, 13.30 Uhr
    Nach einer Bedenkzeit hatte sich Thalmann erneut gemeldet. »Die Mutter soll sprechen. Aber es muss so sein, dass keine Fragen offen bleiben.«
    Wenig später stellte sich Anne-Marie Schülin vor die CNS-Kamera, das Münsterportal im Hintergrund, ließ sich ein Mikrofon anstecken und zeigen, wohin sie schauen solle. Sie hatte ihren Mantelkragen hochgeschlagen und hielt das Revers vor ihrer Brust mit der Hand zusammen. Sie sah aus, als könne sie sich kaum mehr auf den Beinen halten. Aber sie hatte es abgelehnt, sich vor der Kamera auf einen Stuhl zu setzen.
    »Ich bin die Tochter von Dr. Hendrik Hendriksen«, begann sie. »Dass er so heißt, habe ich erst erfahren, als ich eine erwachsene Frau war . . .«
     
    Der Wasserwerfer begann, die Brücke zu räumen. Die drei Kletterer hatten sich unter der Brücke verankert und blockierten die Fahrgleise
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