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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans
Autoren: Ulrich Ritzel
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läuft davon.
     
    Das war gestern gewesen, und gestern hatte er noch einen Wagen gehabt und einen Fahrer und Treibstoff. Aber jetzt, in diesem verfluchten Waldtal tief irgendwo in Oberschwaben, wusste er: Das Spiel war wirklich aus. Ende. Vorbei. Er würde nicht mehr an den Franzosen vorbeikommen. Der Herr Syndikus Toedtwyler würde vergebens warten. Schade. Schade um die Forschungsergebnisse, die unendlichen Mühen der Versuche, die Zumutungen, die er und seine Mitarbeiter auf sich genommen hatten und von denen sie keinem Außenstehenden
jemals würden berichten können. Schade um die Devisen, und gottverdammt schade um den schönen neuen Pass, den ihm Toedtwyler versprochen hatte.
    Reiß dich zusammen, wies sich Hendriksen zurecht. Aus dem Gebüsch am Waldrand hinter ihm drang ein halb unterdrückter Schmerzenslaut, fast ein Wimmern. Also hatte es auch den Wehrmachtsleutnant erwischt, der ihm als Eskorte beigegeben war, das unbeschriebene Blatt, blond und blass und malariakrank. Als die Jagdmaschinen zum Sturzflug ansetzten, hatte auch er sich aus dem Wagen fallen lassen wie Hendriksen. Jetzt lag der junge Mensch zusammengekrümmt im Straßengraben. »Kamerad, so helfen Sie mir doch«, bettelte er. Hatte er wieder einen Fieberanfall? Dann sah Hendriksen das Blut. Offenbar hatte der kleine Leutnant einen Schuss in den Oberschenkel abbekommen, vielleicht war der Knochen getroffen. Trotzdem, der Kleine würde überleben. Wenn er nicht am Fieber starb. Jedenfalls hatte niemand einen Grund, ihn vor ein Peloton zu stellen. Oder ihn aufzuknüpfen.
    Bei Dr. med. Hendrik Hendriksen sah das, wie er selbst nur zu gut wusste, ein wenig anders aus. Illusionen hatte er sich noch nie gemacht. Was soll’s, dachte er sich dann: »Auch die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn.« Das hatte ein Raubritter gesagt und seinem Ross die Sporen gegeben. Freilich hatte der noch ein richtiges Pferd, nicht bloß einen Haufen kaputten Blechs.
    Der Name des Haudegens wollte ihm nicht einfallen. Schall und Rauch. Im Getümmel dieser allgemeinen Auflösung ohnehin. Er wusste nicht einmal mehr den Namen dieses unglücklichen Leutnants. Der eine war so gut wie der andere. Was wäre denn, wenn man den Leuten, die so scharf aufs Erschießen und Aufhängen waren, ihren Toten gleich und ohne weitere Umstände liefern würde, so dass die Herren Sieger sich die Mühe gar nicht erst machen müssten?
    Er ging zum Wagen. Der Tod hatte Koslowskis Gesicht gelöscht.
Hendriksens Arzttasche stand unter dem Beifahrersitz. Er zog sie hervor und kehrte zu dem Verwundeten zurück. »Gleich ist dir geholfen, Kamerad«, sagte er dann, und zog seine Walther heraus. Der bleiche junge Mann blickte zu ihm hoch, fragend. Auf seiner Stirn unter dem schon zurückweichenden blonden Haar standen Schweißperlen. Dann trat Entsetzen in seinen Blick.

Freitag, 23. Januar 1998
    »Was ist das für eine abscheuliche Geschichte!« Angewidert blätterte die Vorsitzende Richterin am Landgericht Isolde Kumpf-Bachmann durch einen der vor ihr liegenden Aktenordner: »Mit einem Rasiermesser . . . mein Großvater hatte so etwas, ich erinnere mich gut, das sah immer sehr gefährlich aus, und regelmäßig hat er sich geschnitten und man musste sofort einen Alaunstein drauftun. Aber heute?«
    Ekkehard Lühns, Berichterstatter in der Strafvollstreckungskammer, warf einen leidenden Blick auf die Kakteen am Fenster des Kumpf-Bachmannschen Dienstzimmers: Auch diese blühten niemals, aber wenigstens waren sie nicht sprunghaft. Hinter dem Fenster hing grau und wolkenschwer ein Freitagnachmittag im Januar, am Abend würde es die ersten Schneefälle in diesem Winter geben, hatte es im Radio geheißen, und Lühns wollte übers Wochenende nach Schruns. So oder so würde es knapp werden.
    »Rasiermesser werden noch heute benutzt, vor allem – aber nicht nur – von Friseuren, bei sehr starkem Bartwuchs zum Beispiel«, erklärte er dann betont sachlich, denn seine eigenen Kinnbacken wiesen nur eine sehr kümmerliche Behaarung auf. Im Übrigen lägen die fraglichen Vorgänge ja nun 17 Jahre zurück, fügte er in der Hoffnung hinzu, dass die Kammer nun zur Sache kommen könne.

    »Das weiß ich auch, dass das 17 Jahre zurückliegt«, gab Isolde Kumpf-Bachmann gereizt zurück, »sonst säßen wir ja nicht hier . . . Immerhin ist das zweifacher Mord, dazu Mordversuch, erst macht er seinen Vorgesetzten betrunken, dann schneidet er ihm . . . ratsch! . . . die Kehle durch, wäscht sich die
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