Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Schatten des Chamaeleons

Titel: Der Schatten des Chamaeleons
Autoren: Minette Walters Mechtild Sandberg-Ciletti
Vom Netzwerk:
behaupteten, Furcht, nicht Konzentration, aus den Gesichtern der drei Soldaten lesen zu können. Sie wurde als Zeichen dafür gewertet, dass die Moral der Koalitionstruppen bröckelte und ein Ende der Besatzung nahe war.
    In Großbritannien, wo ein anderes Verständnis von Kriegsberichterstattung herrschte, entschieden sich die Nachrichtenredaktionen aus Rücksicht auf die Zuschauer gegen eine Übertragung der Filmaufnahmen. Nur einer der Männer hatte überlebt, allerdings mit entstellenden Verletzungen. Angesichts dieser Umstände hielten es selbst die hartgesottensten Redakteure für klüger, den schmalen Grat zwischen Berichterstattung und Effekthascherei gar nicht erst zu betreten.

    Verteidigungsministerium
    CHIRURGISCHES KRANKENHAUS DER BRITISCHEN
STREITKRÄFTE, IRAK
     
     
    Vertraulicher Bericht

    An die zuständigen Stellen
    Lieutenant Charles Acland erlitt bei einem Anschlag auf sein Scimitar-Spähfahrzeug schwere Kopf-und Gesichtsverletzungen: linksseitig Frakturen des Supraorbitalis, des Jochbogens und der Maxilla. Die Wunden wurden gesäubert, Fremdstoffe, abgestorbenes und verbranntes Gewebe entfernt, äußere Blutungen gestillt. Die für Gehirntätigkeit und arteriellen Fluss gemessenen Werte sind unauffällig, obwohl angesichts der Schwere der Verletzungen eine Schädigung des Gehirns wahrscheinlich erscheint. Es wird eine sofortige CT empfohlen. Auf der linken Gesichtshälfte des Patienten befindet sich eine offene Wunde - ein 2 cm breiter, 0,5 cm tiefer, 10 cm langer Abriss -, die durch
Einwirkung heißer Bombensplitter verursacht ist. Muskeln und Nerven sind stark geschädigt, das linke Auge ist nicht mehr zu retten. Der Patient wurde bei der Einweisung auf Antibiotika gesetzt, die offene Wunde zunächst verbunden, um einer Infektion vorzubeugen.

1
    Als Charles Acland aus der Bewusstlosigkeit erwachte, glaubte er zuerst, beim Zahnarzt zu sein. Sein ganzer Mund war taub wie von einer Betäubungsspritze. Dabei war die Sache mit dem Zahnarzt völlig absurd. Er lag auf dem Rücken, die Zimmerdecke über ihm bewegte sich, und hinter ihm bimmelte laut eine Glocke. Ein Wecker ? Er wollte den Kopf heben, um zu sehen, wo er war, aber sofort spürte er eine Hand auf seiner Brust, und das körperlose Gesicht einer Frau erschien über ihm. Die Zahnärztin ? Er sah, dass ihre Lippen sich bewegten, konnte aber nicht hören, was sie sagte, weil der Wecker immer noch schrill läutete. Er überlegte, ob er sie bitten sollte, das Ding abzustellen, bezweifelte aber, dass er unter der Einwirkung des Novokains überhaupt verständlich sprechen konnte. Und sie würde ihn ohnehin nicht hören können.
    Irgendwo in den Tiefen seines Bewusstseins lauerte eine ihm unbekannte Angst. Er verstand nicht, warum, aber die Nähe der Frau beunruhigte ihn. Er hatte sich schon einmal in dieser Lage befunden - platt auf dem Rücken und unfähig, sich zu bewegen -, und eine starke Erinnerung an Schmerzen überfiel ihn. Flüchtig erschien eine andere Frau in seinem Blickfeld, schlank, dunkelhaarig und anmutig. Sie hatte Tränen in den Augen, aber Acland hatte keine Ahnung, wer sie war. Er reagierte instinktiv mit Ablehnung.
    Seine einzigen Bezugspunkte waren der Wecker und die Zimmerdecke,
die sich über ihm bewegte. Und mit beiden konnte er nichts anfangen. Er hätte ewig im Zustand morphiuminduzierter Losgelöstheit dahintreiben können, wenn nicht sein erwachendes Bewusstsein ihm gesagt hätte, dass dies kein Traum war. Sein Empfindungsvermögen meldete sich wieder. Ein Ruck, als das Bett über eine Schwelle holperte. Ein Zug an den Gurten, als sein Körper zuckte. Ein dumpfer Schmerz im hinteren Teil seines Kiefers. Ein kurzer stechender Schmerz den Hals hinauf. Die verwunderte Erkenntnis, dass nur eines seiner Augen geöffnet war.
    Mit Grauen erkannte er, dass er wach war - ohne eine Ahnung, wer er war, wo er war und was ihm zugestoßen war …
     
    Jedes Mal, wenn er danach erwachte, wurde das Grauen größer. Mit der Zeit begriff er, dass das Bimmeln in seinem Kopf war. Mit jeder Rückkehr des Bewusstseins wurde es erträglicher, aber er konnte trotzdem nicht hören, was die Menschen sprachen, deren Gesichter zu ihm hinunterblickten. Die Münder öffneten und schlossen sich, aber kein Laut erreichte ihn. Er wusste auch nicht, ob seine Lippen die Signale umsetzten, die sein Gehirn ihnen sandte. Er versuchte, von seinen Ängsten zu sprechen, aber an der Reaktionslosigkeit der fremden Gesichter erkannte er, dass seine Lippen sich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher