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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris
Autoren: Christine Lehmann
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und vergangen sein.
    Nein, so durfte der Tag nicht enden! Wenn mir der Fremde schon nicht aus dem Kopf gehen wollte, musste ich ihn suchen. So groß war der Weihnachtsmarkt auch wieder nicht. Und wenn es sein sollte, dann würde ich ihn wiederfinden.
    »Du«, sagte ich zu meinem Vater, »ich muss noch mal schnell was besorgen. In einer halben Stunde bin ich wieder da.«
    Mein Vater nickte lächelnd. »Weißt ja, wo du uns findest.« Vermutlich dachte er, ich wollte ihm ein Paar Wollsocken oder einen Brustbeutel für die Reise kaufen.
    Ich lief los. Wohin hatte er sich vorhin gewandt? Wenn er den Weihnachtsmarkt Richtung Markthalle und Karlsplatz verlassen hatte, dann hatte ich keine Chance mehr. Aber wenn er seinen Weg über den Schillerplatz fortgesetzt hatte, würde ich ihn zwischen den Ständen finden. Denn ein Weihnachtsmarktbesucher schlenderte langsam. Ich dagegen rannte fast, vorbei an der Maronenrösterei, an der Bude mit den Erzgebirgsengelchen und der Pyramide bis vor zu den Fischbratereien am Schlossplatz. Auch dort befanden sich Stände mit Fressalien, seitdem jeden Winter die Eisbahn aufgestellt wurde. Ich huschte im Zickzack durch Leute, die in Crêpes bissen und auf wabbeligen Plastiktellern Schupfnudeln mit Sauerkraut oder Maultaschen zu den Mülleimertischen balancierten. Es dampfte und duftete überall. Plötzlich fragte ich mich, was ich hier eigentlich tat. Was, wenn ich ihn wirklich fand? Was wollte ich denn sagen? »Ach, so ein Zufall aber auch. Tja, man trifft sich immer zweimal im Leben.« Und dann mein schönstes Mädchenlächeln aufsetzen, womit ich meinen Vater immer rumkriegte, damit er sagte: »Meinetwegen, Spätzelchen.« Kokettieren, damit der Mann vom andern Stern kapierte, dass er jetzt etwas vorschlagen musste: »Darf ich Sie zu einem Glas Glühwein einladen?« Aber vielleicht wollte er das gar nicht. Am Ende interessierte er sich gar nicht für mich, Finja Friedmann, die sechzehnjährige Gymnasiastin, die ihm hinterherlief und ihn atemlos anhimmelte.
    Während ich zwischen den Buden das Schillerdenkmal umrundete, ging ich mit mir ins Gericht. Was war ich schon? Die Tochter eines Professors, überdurchschnittlich gut in der Schule, blond und blauäugig und halbwegs hübsch. Jetzt bereute ich, dass ich mir meine lange blonde Mähne im Sommer hatte blitzkurz schneiden lassen. Einen Prinzen aus dem Morgenland reizten Frauen mit kurzen Haaren sicher nicht. Außerdem trug ich Jeans, Pullover, Schal, kurze Kunstlederjacke und hochhackige Stiefel, alles topmodisch, aber keineswegs elegant oder gediegen. Im Gegenteil. Die Jagd nach Schuhen und Hosen für fünf Euro in den angesagten Billigstläden, die meine Freundinnen Meike und Nele und ich zu unternehmen pflegten, kam mir auf einmal kindisch vor. Wir waren nur Schülerinnen ohne Geld. Und der junge Mann im eleganten Wintermantel mit Kaschmirschal hatte mir das sicherlich sofort angesehen. Zu jung. Nicht sein Niveau.
    Und wie hätte ich ihn meinem Vater oder meiner Stiefmutter Jutta verkaufen sollen? Was würden sie sagen, wenn ich einen solchen Mann anschleppte? So märchenhaft schön, so elegant, kultiviert, reich, jedoch offensichtlich aus fernen Landen und fremder Kultur. Jutta war ohnehin schon ziemlich nervös, was meine Freunde betraf. Sie fürchtete ständig, dass ich die Schule schmeißen würde. Jutta befürchtete ständig allerlei. Und ich machte es ihr auch nicht gerade leicht. Wenn sie mich nervte mit ihren Bedenklichkeiten, dann sagte ich: »Du bist nicht meine Mutter!« Und sie kniff die Lippen zusammen und antwortete: »Aber einen gut gemeinten Rat könntest du trotzdem annehmen.« Sie steckte voller guter Ratschläge. Solche wie: »Zieh dir ein Unterhemd an. Ihr holt euch doch alle eine Nierenentzündung, wenn ihr in diesen kurzen Jacken herumlauft.«
    Leider waren all diese Gedanken unnötig. Ich hatte den ganzen Schillerplatz abgeklappert, den Durchgang zum Marktplatz, den ganzen Markt unterm Rathausturm, auch die Seitenarme in den Nebenstraßen, hatte die Markthalle umrundet und stand wieder vor dem Stand mit den Erzgebirgsengelchen. Aus der Traum! Ein Hirngespinst, eine typische Finja-Idee war das gewesen. Ich war einer Fantasie hinterhergejagt und hatte sie nicht fassen können. Aber ich hatte es wenigstens versucht. Es hatte eben nicht sein sollen. Auch wenn es sich nun anfühlte wie ein Loch im Herzen.
    Aber eines dieser Engelchen musste ich kaufen. Es ging nicht anders, auch wenn sie erschreckend teuer waren. Aus
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