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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris
Autoren: Christine Lehmann
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Gefühl, etwas Wichtiges nicht getan zu haben. Ich war drauf und dran umzukehren. Weit konnte er ja nicht sein. Doch was dann? Finja, sagte ich mir, sei nicht albern!
    Meine Freundin Meike hatte sich einmal in der Straßenbahn in einen Jungen verknallt. Sie war ausgestiegen und hatte nachher wochenlang nach ihm gesucht. Sie war immer wieder zur gleichen Zeit mit der Straßenbahn gefahren, hatte ihn über den Rundfunk und über die Zeitung gesucht und schließlich gefunden. Sie hatten sich getroffen. Meike war schier gestorben vor Aufregung. Doch dann hatte er sich als totaler Unsympath entpuppt. »Ordinär wie eine Blattwanze!«, hatte Meike nur gesagt und nichts weiter erzählen wollen.
    Ich sah den blonden Schopf meines Vaters das Grüppchen seiner Studenten überragen und blieb stehen. Etwas in mir wollte anders. Ich drehte mich um. Keinen Moment zu früh, denn während ich mich umdrehte, bemerkte ich, dass jemand seine Hand aus meiner Handtasche zog. Es war ein kleiner Junge in abgerissenen Kleidern. Er hatte schon meinen Geldbeutel in der Hand. Für einen Moment blickte ich in freche braune Augen, dann drehte er sich um und rannte los, im Zickzack zwischen den Menschen hindurch, die erschrocken auswichen.
    »He!«, schrie ich.
    Ich wollte gerade lossprinten, da stoppte jemand seinen Lauf. Der Junge hatte versucht, einen Haken zu schlagen, rannte aber mit dem Kopf voran in den Mantel eines Mannes, der vom Himmel gefallen schien. Mir fuhr es in die Glieder. Denn es war er, der Fremde vom anderen Stern. Er hielt den kleinen Dieb am Arm gepackt. Der Junge zappelte.
    »Er hat mir den Geldbeutel geklaut!«, rief ich. »Halten Sie ihn fest!«
    Ich sah, wie der Fremde dem Jungen meinen Geldbeutel aus der Hand nahm. Und plötzlich hörte der Junge auf zu zappeln, stand still wie ein Lamm. Wie verzaubert, dachte ich. Und so stand auch ich und schaute verblüfft zu. Denn nun ließ der Fremde die Hand des kleinen Diebs los. Doch der Junge floh nicht. Er blieb stehen. Er schien wie hypnotisiert. Gebannt sah er zu, wie der Fremde seine Hand in den Mantel steckte und mit einem Geldschein wieder hervorzog, den er dem Jungen hinhielt. Der kleine Dieb nahm den Schein, deutete eine dankende Verbeugung an und rannte davon. Im Nu war er im Dunkeln zwischen den Leuten verschwunden.
    »Das ist meine Geldbörse!«, sagte ich, aufgeregt und außer Atem bei dem Mann ankommend.
    »Bitte sehr!«, erwiderte er.
    Ich hätte sie beinahe fallen lassen, als sein Blick in meinen tauchte. Was für Augen! Pechschwarz unter langen Wimpern und dichten schwarzen Brauen! Und was für ein Gesicht! Sehr jung, glatt und südländisch dunkel mit markanter Nase und kräftigem Kinn. Auf seinen Lippen lag ein leichtes Lächeln. Es war ein schönes, dennoch sehr männliches Gesicht. Ich musste ihn einfach angucken. Entweder war er ein reicher britischer Collegestudent oder ein Prinz aus dem Morgenland. Beide gehörten nicht zwischen Lebkuchen- und Glühweinbuden.
    »Warum haben Sie ihn laufen lassen?«, fragte ich, denn irgendetwas musste ich sagen. »Man hätte ihn der Polizei übergeben müssen.«
    »Ist doch bloß ein kleiner Dieb«, antwortete er in akkuratem Deutsch mit einem Hauch von schweizerdeutschem Akzent.
    »Er gehört bestimmt zu einer osteuropäischen Diebesbande«, referierte ich, was überall in der Zeitung stand. »Die schicken Minderjährige über die Weihnachtsmärkte, weil sie noch nicht strafmündig sind.«
    »Dann hätte es ohnehin keinen Sinn gehabt, ihn festzuhalten, nicht wahr?«
    »Aber Sie haben ihm sogar noch Geld gegeben!«
    »Er muss doch auch leben.«
    Fast streng hielt sein Blick meinem stand. Und bestimmt schaute ich ihn ungläubig an. »Aber …«
    »Wenn ihr etwas Gutes gebt, soll es den Armen und dem, der unterwegs ist, zukommen«, sagte der Fremde.
    Ich musste unwillkürlich lachen. Was für ein seltsamer Heiliger! Der Spruch klang zwar fromm, aber nicht wie aus meiner Welt. »Und Sie sind nicht zufällig Jesus?«
    Er zog verärgert die Brauen zusammen. Sein Blick ging hinüber zur Auslage bunter Kräuterbonbons, die einen intensiven Geruch nach Eukalyptus, Ingwer und Fenchel verbreiteten. Was hatte ich denn gesagt?, fragte ich mich fieberhaft. Mein Hirn war wie aus Zuckerwatte. Das Einzige, was mir einfiel, war die Verabredung mit meinem Vater. »Ich … ich muss dann mal …«, stammelte ich und hätte viel lieber etwas ganz anderes gestottert, keine Ahnung, was, aber auf jeden Fall etwas, das uns nicht getrennt
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