Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris
Autoren: Christine Lehmann
Vom Netzwerk:
hätte.
    »Ich muss auch los«, antwortete er. »Hat mich gefreut. Good bye! « Und damit drehte er sich um.
    Ich Ochsenfrosch! Hätte ich nicht etwas sagen können wie: »Wollen Sie nicht mitkommen und mit uns einen Glühwein trinken?«
    Die Lücke, die seine Gestalt ins Gedränge der Weihnachtsmarktbesucher geschlagen hatte, schloss sich. Und schon war der geheimnisvolle Mann in der Menge verschwunden. Doch sein Bild hatte sich in mir eingebrannt. Die dunklen Augen, das schöne und dennoch gar nicht weiche Gesicht überm hochgeschlagenen Mantelkragen. Etwas fröstelig hatte er ausgesehen. Die ganze Zeit hatte er die Hände in den Manteltaschen gehabt. Eine Schneeflocke war ihm auf die Wimpern gefallen und zu einem glitzernden Tropfen geschmolzen.
    Betäubt vom Duft der Bonbons, der sich mit den Düften von Glühwein und Kartoffelpuffern mischte, stolperte ich meines Wegs.
    Auf einmal hatte ich keine Lust mehr auf das Treffen mit meinem Vater und seinen Studenten. Es schien plötzlich alles sinnlos, dunkel und reizlos wie dieser Weihnachtsmarkt unter dem grauschwarzen Himmel, aus dem nasser Schnee fiel und nicht liegen blieb.
    »Finja, da bist du ja!« Mein Vater nahm mich kurz in den Arm, als ich bei den Stehtischen ankam. Die Tische hatten in der Mitte ein Loch, in das man den Abfall schieben konnte. Mülleimertische gewissermaßen. Ich schaute in die rotnasigen Gesichter der sieben oder acht Studenten, die gekommen waren und sich an dampfenden Weingläsern und ihren Zigaretten festhielten. Aber ich sah alles nur wie durch Watte. Ich hatte einen großen Fehler gemacht. Aus Trägheit, aus Feigheit, weil man als Frau Männer nicht zum Glühwein einlud …
    »Was willst du haben?«, fragte mich mein Vater. »Glühwein?«
    »Ja, ja.«
    Einer der Studenten erbot sich und ging.
    »Ist was?«, fragte mein Vater. Er hatte manchmal ein feines Gespür für meine Befindlichkeiten.
    »Nein, es ist nichts, Papa. Mir … mir hat nur eben ein kleiner Taschendieb den Geldbeutel klauen wollen. Ein Passant … hat mir geholfen. Er hat ihn festgehalten und … na ja.«
    »Dann Prost auf den Schrecken!«, sagte mein Vater und hob sein halb leeres Glühweinglas. Der Student hatte mir meines inzwischen gebracht. Alle hoben die Gläser und unterhielten sich noch eine ganze Weile über strafunmündige Taschendiebe, osteuropäische Diebesbanden und was sie tun würden, wenn sie so ein Bürschchen schnappen würden. Nämlich ihm so Bescheid stoßen, dass er diese Saison nicht mehr klauen würde.
    »Die müssen doch auch leben!«, hörte ich mich sagen.
    »Aber nicht aus meinem Geldbeutel«, sagte Boris, der mir den Wein gebracht hatte. Boris studierte schon eine Weile bei meinem Vater und war letztes Jahr auch dabei gewesen.
    Später unterhielt man sich über Dubai und die künstlichen Inselwelten, welche die Scheichs im Meer anlegten. Eine sah aus wie eine Palme, die andere hieß The World und stellte das Abbild einer Weltkarte mit ihren Kontinenten dar.
    »Aber das meiste ist gestoppt worden wegen der Wirtschaftskrise«, bemerkte Boris. »Den Scheichs ist das Geld ausgegangen. Werden Sie denn dort jetzt überhaupt noch gebraucht, Professor?«
    »Aber sicher!«, antwortete mein Vater. »Wenn den Scheichs das Öl ausgeht, dann wollen sie Weltmarktführer in Solartechnik sein. Und der Flughafen in der Wüste vor der Stadt wird auch weitergebaut.«
    Für diesen gigantischen Flughafen von Dubai hatte das Institut meines Vaters ein Lichtkonzept und ein Konzept für eine Klimaanlage entwickelt, die nur mithilfe der Sonne und raffinierter Belüftung funktionierte. Mein Vater war Anfang des Jahres für drei Monate in Dubai gewesen und in wenigen Tagen würde er erneut für einige Monate hinfliegen.
    Jutta und ich würden ihn über Weihnachten besuchen. Das Hotel war gebucht, einschließlich Wüstentour und Übernachtung im Beduinenzelt. Noch vor einer Stunde hatte mich die Aussicht, Weihnachten in den Vereinigten Arabischen Emiraten zu verbringen, mit Vorfreude erfüllt: Wüste, Wärme, Meer, eine Glitzerwelt aus Hochhäusern, Kamele, Araberpferde, Männer in langen weißen Hemden, Bauchtänzerinnen. Aber das interessierte mich alles jetzt gar nicht mehr. Wie ein Schwarm von Sternschnuppen fielen feuchte Schneeflocken durch den Lichtschein der Laterne auf uns herab. Kurz leuchteten sie auf, ehe sie verloschen. Sie waren dazu verdammt, zertreten zu werden oder sich in den schmutzigen Winkeln zu vereinen, und würden doch auch dort bald geschmolzen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher