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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris
Autoren: Christine Lehmann
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Antwort bekommen außer: »Schlag dir das aus dem Kopf, Jasmin.«
    Mit einem gelben Taxi rollten wir auf einer Autobahn ins Zentrum. Die Straße bestand aus vier Spuren in jede Richtung. Für die roten Busse des TransMilenio gab es noch einmal zwei Extraspuren. Alles an Bogotá war gigantisch, wenn man wie ich nur Konstanz und Stuttgart kannte und von einem Schullandheimaufenthalt gerade mal noch Berlin. Aber das waren Kuhdörfer verglichen mit der kolumbianischen Hauptstadt. Sieben Millionen Menschen wohnten hier. Im Süden herrschte Mord und Totschlag in den Slums, im Norden hauste in Wolkenkratzern das Geld.
    »Es ist doch alles recht sauber«, bemerkte meine Mutter, als hätte sie Ratten und Müllberge erwartet. »Und so grün!«
    Kunststück, es regnete ja auch ständig.
    »Guck mal!«, rief mein Vater, als wir an einer Ampel hielten. »Hier gibt es noch diese Schilder für Parkverbot, die wir früher auch hatten. Die mit dem durchgestrichenen P.«
    Ich schaute aus dem Fenster. Hätte ich das nur nicht getan. Statt des nostalgischen Schilds, das mein Vater entdeckt hatte, sah ich den Bettler, der am Mäuerchen einer kleinen Grünanlage lehnte. Ein junger Mann in Regenjacke ging an ihm vorbei und warf ihm einen angebissenen Hamburger zu, aber nicht weit genug. Das Brötchen knallte auf den Gehweg und fiel auseinander. Ehe der Bettler hinkam, war ein bis aufs Skelett abgemagerter Hund aus der Grünanlage hervorgestürzt und hatte sich den Fleischklops geschnappt. Ich sah, wie der Bettler den Mund zu einem Schrei aufriss und dem Hund eine Eisenstange, die dort herumlag, über den Schädel schlug. Der Hund brach zusammen. Unser Taxi fuhr los, und ich sah gerade noch, wie der Bettler dem wie tot daliegenden Hund den Fleischklops aus den Zähnen klaubte und sich selbst in den Mund steckte.
    Ich hätte beinahe gekotzt.
    Usaquén lautete der Name des Stadtteils, San Patricio hieß das Viertel und Residencia El Rubí die von Kameras und Pförtner bewachte Anlage, in der wir wohnen sollten. Das Krankenhaus, in dem Papa arbeiten würde, hatte die Wohnung ausgesucht. Die roten zehnstöckigen Klinkerblocks umschlossen wie Festungsmauern einen grünen Rasen mit Bananenstauden und Papageien in den Bäumen.
    Unsere Wohnung befand sich im zweiten Stock. Sie hatte vier Schlafzimmer, zwei Bäder und einen Tanzsaal von Wohn- und Esszimmer, in dem schwarze Holzkommoden und steile Stühle im spanischen Kolonialstil herumstanden. Und sie war kalt wie eine Gruft.
    »Heizung?« Estrellecita zog die Brauen hoch und lächelte. »Es liegen Decken in den Schränken.«
    Estrellecita war unsere Haushälterin, die das Krankenhaus vermutlich gleich mitgemietet hatte. Und sie hatte von Heizungen offensichtlich noch nie etwas gehört.
    In Bogotá wurden Häuser und Wohnungen für tropische Wärme gebaut, schließlich befand man sich am Äquator, nur dass es tropische Wärme hoch oben in den Anden nicht gab, was man ja eigentlich seit Gründung der Stadt vor fünfhundert Jahren wusste. Es wurde, so hatten die Reiseführer gedroht, die meine Eltern gelesen hatten, selten wärmer als 15 Grad und nachts schnell kälter als 5 Grad.
    Die ganze Stadt war eine Fehlkonstruktion. Und deshalb aß man heiße Suppen. Estrellecita empfing uns jedenfalls mit einem Ajiaco Santafereño, einer Kartoffelpampe mit Hühnerfleisch, in der sich ein Stück Maiskolben verbarg. Dazu gab es ein Schälchen Grünzeug, das mein Vater Franzosenkraut nannte und das nach rohen Erbsen schmeckte, außerdem Kapern, Sahne und eine halbe Avocado in weiteren Schälchen. Und natürlich Brot.
    »Wir müssen uns mit dem Brot zurückhalten, Markus!«, ermahnte meine Mutter meinen Vater schon mal. Für Mama war Brot eine totale Katastrophe, denn es machte dick.
    So begann also meine Zeit der Regenjacke.

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– 2 –
     
    M ein erster Schultag verlief typisch Jasmin Auweiler. Ich ging alleine. Meine Mutter lag mit Migräne im abgedunkelten Schlafzimmer, mein Vater operierte. Schon an meinem ersten Schultag in meinem Leben war ich alleine mit der Schultüte losgezogen, weil meine Eltern irgendwie nicht abkömmlich gewesen waren.
    Der Schulbus fuhr zwanzig Minuten gen Norden aus der Stadt heraus ins Grüne. An der Pforte musste ich meinen Ausweis zeigen. Außerdem wollte der Pförtner ein Papier von mir, das ich nicht dabeihatte. Eine Autorisation, wie er das nannte. Meine Erklärung, dass ich ab heute hier Schülerin sei, genügte ihm nicht. Er telefonierte erst mit der Verwaltung, ließ
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