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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris
Autoren: Christine Lehmann
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aus Stahl hatte sich die letzten Wochen sehr gut angefühlt an meinem Handgelenk. Und immer wieder hatte ich mich gefragt, warum er sie mir gegeben hatte. Warum war es Simon so wichtig, dass ich mich in Kolumbien nicht verliebte? Irgendwas musste ihm ja wohl an mir liegen. Vielleicht war mir da was entgangen. Andererseits, ein Jahr war lang, und er würde, wenn ich wiederkam, sicherlich eine Freundin haben. Vielleicht sogar endlich Vanessa. Dann war es ihm vermutlich egal, wer ihm das Erbstück seines Vaters zurückbrachte, Hauptsache, er bekam die Uhr überhaupt wieder.
    Und nun hatte ich sie verbaselt, verloren, hatte sie mir von einem Seidenäffchen klauen lassen und besaß nicht den Mut, den Dieb zur Rede zu stellen.
    Und ob ich den Mut besaß! Ich musste es ja nur nicht überstürzen. Der Indio würde noch ein paar Stunden da unten in der Anlage zubringen. Und wenn ich ihn heute nicht kriegte, dann irgendwann sonst. Es war bestimmt nicht das erste und letzte Mal, dass er sein Äffchen auf Beutezug durch die Zimmer schickte.
    Große Dinge konnte so ein Äffchen nicht mitnehmen, aber die kleinen teuren: einen Ring, eine Kette, einen iPod, ein Handy. Wenn es den Besitzern auffiel, würde man die Haushaltshilfe beschuldigen. »Dienstpersonal klaut immer.« Diesen Satz kannte ich seit meiner ersten Grillparty bei den neuen Kollegen meines Vaters, er fiel auf jedem Kaffeeklatsch. Sie klauten Besteck, Nahrungsmittel, Geld. Man musste sie hin und wieder entlassen.
    Aber beweisen musste man es ihnen schon.
    Hätte ich nicht beobachtet, wie der Affe Simons Uhr klaute, sondern erst später bemerkt, dass sie nicht mehr auf meinem Nachttisch lag, dann hätte ich vermutlich unsere Estrellecita beschuldigt. Oder wenn nicht ich, dann hätte meine Mutter es getan. Sie regte sich immer gleich auf. Und dann bekam sie Kopfschmerzen.
    Deshalb beschloss ich, meinen Eltern erst einmal nichts von dem zu sagen, was ich an diesem Morgen beobachtet hatte. Sie saßen schon beim Frühstück, als ich in den Salon kam. Sonntags kam Estrellecita nicht, deshalb gab es nur Kaffee und Brot.
    »Heute ist es so weit«, sagte mein Vater vergnügt. »Wir wollen endlich unsere Fahrradtour auf der Ciclovía machen.«
    Jeden Sonntag wurden in Bogotá 120 Kilometer Straßen in achtzehn der zwanzig Stadtteile für den Autoverkehr gesperrt und zu Fahrradwegen erklärt und dann schwärmten die Radler aus wie die Fliegen.
    »Ich kann nicht mit«, stellte ich gleich klar. »Ich bin mit Elena zum Reiten verabredet.«
    Mein Vater machte traurige Augen. »Ausgerechnet wenn ich mal am Sonntag freihabe. Wir sehen uns so selten.«
    »Praktisch täglich«, sagte ich.
    »Aber immer nur zwischen Tür und Angel.«
    Seit meiner Kindheit ging das so. Als Arzt war Papa oft nicht zu Hause gewesen. So manchen Sonntag, den er freihatte, war ich dazu verdonnert worden, daheim zu bleiben, mit den Eltern auf dem Bodensee zu segeln, in den Schweizer Bergen zu wandern oder bei Regen Gesellschaftsspiele zu spielen. »Beschäftigungstherapie für Eltern«, hatte ich das immer genannt. Logisch, dass ich dabei nicht vor guter Laune gesprüht hatte. Was mir keinen Spaß machte, sollte ihnen auch keinen machen. Aber bislang hatten sie noch nicht eingesehen, dass sie nichts davon hatten.
    »Willst du dir nicht auch mal mit uns zusammen ein bisschen was von der Stadt anschauen?«, fragte Mama mit diesem vorwurfsvollen Timbre in der Stimme, als dürfte ich nichts Schöneres kennen, als mit den Eltern loszuziehen.
    »Ich komme mehr herum als ihr«, antwortete ich. »Und ich würde noch mehr sehen, wenn ihr mir nicht alles verbieten würdet.«
    »Fang nicht wieder damit an!«, mahnte Mama. »Das haben wir doch ausdiskutiert.«
    Der Punkt war der: Elena hatte mich eingeladen, Anfang der Sommerferien mit ihr und ihrem Vater für ein paar Tage ins Gebirge zu einer Smaragdmine zu fliegen. »Viel zu gefährlich«, hatte meine Mutter sofort befunden.
    »Aber wir werden mit dem Hubschrauber fliegen«, erklärte ich noch einmal. Vielleicht sah mein Vater es ja weniger eng. »Was soll da passieren?«
    Papa hob interessiert den Kopf.
    »Ich habe mir das auf der Karte angesehen«, erklärte meine Mutter, mehr ihm als mir. »Genau dort in der Gegend ist diese deutsche Lehrerin Susanne Schuster entführt worden.«
    Diese deutsche Lehrerin war neben klauenden Dienstboten das zweite Thema, das aufkam, sobald man sich in der ausländischen Gemeinde traf. Susanne Schuster war vor gut drei Jahren in den
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