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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris
Autoren: Christine Lehmann
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lachen. »Hier in der Stadt?«
    »Ich spreche von den gezähmten Affen. Man findet sie süß und niedlich und will sie streicheln und währenddessen reißen sie dir die Ohrringe aus den Ohren und klauen dir das Handy aus der Tasche. Meine Landsleute sind leider alle Diebe, weißt du! Sie sind ungebildet und faul. Sie wollen alle das schnelle Geld und Party und Marlboro-rote Autos.«
    »Ruhe, bitte!«, sagte die Lehrerin.
    Elena war immerhin bis zur Pause halbwegs still. Dann fuhr sie fort, mich vor dem gefährlichen Pflaster zu warnen, das Bogotá darstellte. Aber eigentlich war sie ganz in Ordnung. Irgendwie bewunderte sie mich sogar. Das kannte ich von Vanessa gar nicht. Für Vanessa war ich immer die kleine Schwester gewesen, die man mal mitnahm, aber auch mal einfach sitzen ließ. Elena dagegen erklärte mir alles, zeigte mir die Mensa, die Bibliothek und ihre Computerräume. Außerdem stellte sie mich ihrer Clique vor und lud mich ein, mit ihnen allen zusammen am Wochenende ins Kino zu gehen, wenn es meine Eltern erlaubten. Schon nach einer Woche nahm sie mich mit zu sich nach Hause. Und als sie hörte, dass ich daheim geritten war, lud sie mich ein, sie in den Reitstall zu begleiten und auf einem von den fünf Pferden zu reiten, die ihrem Vater gehörten.
    Ich musste zugeben, dass die Schule total okay war.
    Inzwischen trat meine Mutter auch ihre Stelle im Labor der Privatklinik an, in der mein Vater arbeitete. Sie war eigentlich Fachärztin für Labormedizin und Mikrobiologie. Für die Laborstelle im San Vicente war meine Mutter zwar überqualifiziert, aber »besser als daheim herumsitzen«, wie sie meinte. »Vielleicht findet sich ja bald etwas Interessanteres. Und soll ich den ganzen Tag mit den Engländerinnen Tee trinken? Jasmin ist ja den ganzen Tag in der Schule.«
    Genauer, bis vier Uhr nachmittags. Bis ich an der Haltestelle Pepe Sierra aus dem Schulbus gestiegen und nach San Patricio hineingelaufen war, war es halb fünf. Dann dauerte der Tag noch anderthalb Stunden. Denn in dieser Gegend am Äquator gibt es keine Jahreszeiten. Die Sonne scheint immer nur zwölf Stunden. Sie geht um sechs auf und um sechs unter. So gingen die ersten Wochen dahin.

de

– 3 –
     
    D ann kam der Tag, an dem der Affe Simons Uhr stahl. Es war ein Sonntagmorgen, noch vor dem Frühstück. Ich hatte mich gerade angezogen. In der Nacht hatte es wüst geregnet, aber jetzt schien die Sonne. In den Bäumen der Grünanlage, die von jungen Kolumbianern peinlich genau gepflegt wurde, schnatterten die Papageien und pfiffen die Vögel. Der Rasen dampfte, wie so oft, und der Fleck blauer Himmel wurde schon wieder bedrängt von dunklen Wolken.
    Da erschien auf einmal ein Äffchen auf dem Balkongeländer. Es hatte ein seidiges Fell und ein rotes Halsband und gab zirpende Laute von sich. Seine Augen waren groß und schauten mich unverwandt durch die Scheibe der Balkontür an. Es wirkte erschreckt, aber diese kleinen Seidenäffchen sahen immer so aus.
    Vielleicht hat es Hunger, dachte ich.
    Auf dem Balkon standen die Pfützen, und das Äffchen turnte zwitschernd auf dem Stuhl herum. Ich öffnete die Balkontür. Kühle, feuchte Luft fiel herein. Das Äffchen sprang mir sofort auf den Arm. Es war federleicht und quicklebendig. Seine Finger, die sich in die Falten meines Shirts krallten, waren winzig. Einen Augenblick später sprang es von meinem Arm herunter, lief ins Zimmer, hüpfte über die Bettkante auf meinen Nachttisch, schnappte sich meine oder vielmehr Simons Armbanduhr und war mit zwei Sprüngen wieder federleicht über meinen Arm hinweg hinaus auf den Balkon gesprungen, ehe ich kapierte, was geschah. Und schon war es über das Balkongeländer verschwunden.
    Scheiße!
    Immerhin hatte es meinen iPod nicht genommen mit all den Songs von Juanes und meinen gesamten CDs, die ich draufgeladen hatte. Ich dachte an Elena und ihre Schauergeschichten von Dieben und diebischen Affen. Man fand sie niedlich und streichelte sie ...
    Ich sprang auf den Balkon, um zu sehen, wohin das Äffchen verschwand, und sah, wie es auf drei Beinen zwischen den Bananenstauden hindurch quer über den Rasen hüpfte.
    Vom anderen Ende betrat einer der Gärtner die Anlage. Es war der junge Kerl, den ich schon ein paarmal am Wochenende gesehen hatte. Er schnitt Bäume und mähte den Rasen. An ihm hangelte sich das Äffchen jetzt hinauf. Er griff nach ihm, aber es sprang von seiner Schulter sofort in den nächsten Baum. Soviel ich von oben erkennen konnte,
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