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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris
Autoren: Christine Lehmann
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Gründen interessant. Er wollte wichtige Leute kennenlernen und ihnen seine Ideen für eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung erläutern. Also gab es eine realistische Chance, dass wir hingehen würden. Elena redete seit Tagen von nichts anderem als dem Ball.
    Aber das löste jetzt mein Problem nicht. Ich präparierte mich für einen Spaziergang: iPod, Regenjacke, Handy, Plastikschuhe. Mit den Kopfhörern im Ohr verließ ich die Wohnung. Das Treppenhaus war kalt, vor der Tür knallte die Sonne.
    Mit Juanes – alias Juan Esteban Aristizábal Vázquez aus Medellín – auf den Ohren ging ich den Weg zum Siedlungstor entlang. » A Dios le pido «, sang Juanes, »Ich bitte Gott ... que mi pueblo no derrame tanta sangre, y se levante mi gente  ... dass in meinem Volk nicht so viel Blut vergossen wird und dass meine Leute sich erheben ...« Dabei war es eigentlich ein Liebeslied. Aber in Kolumbien lagen Liebe und rote Revolution immer nahe beieinander.
    Ich weiß nicht, was mich bewog, mich umzudrehen, vielleicht eine Ahnung, denn gehört haben konnte ich ihn nicht.
    Der Gärtner kam mit großen Schritten über die Wiese heran. Mein Herz begann zu pochen. Er kam direkt auf mich zu, mit einer großen Gartenschere in der Hand, einer mit langen Teleskopgriffen, mit der man Zweige weit oben abschneiden konnte. In seiner Hand schien das Gerät nichts zu wiegen. Die Sonne stand hinter ihm, sein Gesicht lag im Schatten. Ich sah die hohen Wangenknochen, die schmalen pechschwarzen Augen, die scharf gezeichneten vollen Lippen, zusammengepresst und gezeichnet von der Härte des Lebens, die das Schicksal den Familien und Kindern der Indios, Mestizen und den Abkömmlingen der Sklaven oft schon früh bescherte. Es war ein ernstes, gleichmäßiges Gesicht, jung und dennoch reif und erwachsen. Vermutlich war er kaum älter als ich, doch für ihn hatte der Ernst des Lebens längst begonnen. Womöglich schlug er sich seit seinem dreizehnten Lebensjahr mit Jobs durch, ernährte seine Familie, Schwestern mit Kindern, seine Mutter, einen Vater, der Alkoholiker war. Wahrscheinlich war es ein enormer Glücksfall, dass ihn die Verwaltungsgesellschaft der Siedlung El Rubí angestellt hatte, damit er die Grünanlagen in Ordnung hielt. So was war wie ein Sechser im Lotto.
    Wenn ich ihn des Diebstahls bezichtigte, verlor er nicht nur seinen Job, sondern die Chance seines Lebens. Und sicher würde er sich verteidigen, mit allen Mitteln. Für ihn ging es um alles, für mich nur um eine alte Uhr von geringem materiellen Wert. Wenn ich es Simon erklärte, würde er es wahrscheinlich verstehen. Aber andererseits: Konnte man es dem Indio einfach so durchgehen lassen? Ich meine, wenn er schon hier bei uns die Chance seines Lebens bekommen hatte, warum musste er dann seinen Affen auf Diebestour schicken?
    Das alles ging mir blitzschnell durch den Kopf, als er ohne sichtbare Anstrengung, leicht und kraftvoll ein Mäuerchen übersprang, das den Rasen von einem Blumenbeet trennte.
    Die Art, wie er sich bewegte, faszinierte mich wider Willen. Sie hatte mich schon früher fasziniert, wenn ich ihn von meinem Balkon aus in der Ferne auf dem Rasen werkeln gesehen hatte. Und es war schwer zu beschreiben, wie ich dabei auf den Gedanken kam: Armut macht glücklich. Die Nähe zur Natur, das In-der-Natur-Sein, Selbst-Natur-Sein, das er verkörperte, lebendig, kraftvoll wie der schwarze Jaguar, der in den Urwäldern jagte. Es war albern. Aber daran musste ich auch jetzt wieder denken: Wie ein Jaguar, der den Wald beherrschte. Und wenn er satt war, dann tötete er nicht.
    Mit leisem Schritt eroberte er den Weg.
    Unwillkürlich trat ich zurück, obwohl mir hier in der Anlage nichts passieren konnte. Absolut gar nichts. Hoffentlich! Doch was wollte er von mir mit dieser schweren Gartenschere in der Hand?
    Er steckte die andere Hand in die Tasche seiner weiten Hose, zog sie wieder heraus und streckte sie mir hin. Auf seiner nicht wirklich sauberen Handfläche lag Simons Uhr.
    »This is yours! «, sagte er.
    Im nächsten Moment hatte ich die Uhr in meiner Hand und er hatte sich umgedreht und ging mit langen Schritten davon. Erst im zweiten Moment fiel mir auf, dass er mich auf Englisch angesprochen hatte, nicht auf Spanisch. Und dann dachte ich: »He, warte mal!« Aber falls ich es sagte, dann nur ganz leise, und da war er auch schon in einem Durchgang zwischen den Häuserblocks verschwunden.
    Ich hätte ihm hinterherlaufen müssen. Aber mir klopfte das Herz im
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