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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris
Autoren: Christine Lehmann
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ruhiger setzte ich meinen Weg fort. Schlüssige Erklärungen waren immer beruhigend, stellte ich fest. Der Tag war schön. Ich hatte meine Uhr wieder. Ich musste Simon nicht enttäuschen. Alles war gut. Die Straße dampfte. Der Himmel war ungewöhnlich blau, fast fleckenlos zwischen den Hochhäusern. Kirchenglocken läuteten. Ich war froh, dass meine Eltern von dem Drama meines Sonntagmorgens nichts mitbekommen hatten. Zum Glück hatte ich ihnen nichts erzählt und zum Glück hatte ich auch Elena am Telefon nichts gesagt. Sie hätte mich spätestens morgen in der Schule gelöchert. Ich hätte ihr alles haarklein erzählen müssen, auch von seinen drei englischen Worten und meiner kompletten Sprachlosigkeit.
    Ich schaute mich um. Ich war bis zur Hacienda Santa Bárbara , einem Einkaufszentrum im Kolonialstil, gekommen. Ziemlich weit schon. Mir war heiß, ich zog die Jacke aus. Die Sonne schien. In Bogotá herrschte Dauerfrühling von der schwülen Sorte. In der Sonne war es sofort warm, aber wenn sie hinter düsteren Wolken verschwand, dann pfiff einem der Wind durch die Knochen.
    Bogotá war eine total krasse Stadt. Sonne und Regen lagen eng beieinander, Armut und Reichtum, Frieden und Verbrechen. Ich fühlte es immer wieder körperlich. Seit sechs Wochen lebte ich jetzt hier mit einem Knoten hinterm Brustbein. Nie durfte man sich entspannen, nie unaufmerksam, nie sorglos sein. Wenn ein Auto am Straßenrand hielt – das hatte Elena mir beigebracht –, schaute man, wer ausstieg, und machte einen Bogen. Noch besser, man betrat sofort einen Laden oder ein Restaurant. Sonst wurde man plötzlich ins Auto gezerrt und entführt. Bogotá sei vergleichsweise sicher, sagten die Leute, und im nächsten Atemzug erzählten sie von einer Freundin, die vor ihrer Haustür überfallen worden sei. Es gab reichlich Parks mit Teichen und Grillplätzen, doch immer standen dort auch Leute mit Plastiktüten und hatten irgendwas auf dem Pflaster zum Verkauf ausgelegt. Männer guckten mir hinterher, und ich durfte nicht zurückgucken, sonst fühlten sie sich gleich animiert, mich anzusprechen.
    Nicht viel anders verhielten sich die Rucksacktouristen aus Amerika und Europa. Sie fragten nach dem Weg und bettelten im selben Atemzug um Geld oder um einen Schlafplatz. Sie schienen zu meinen, dass sie Anspruch auf Gastfreundschaft und kostenlose warme Mahlzeiten hätten, nur weil sie einen Rucksack auf dem Rücken trugen.
    Was zum Teufel machte ich hier nur? Seit sechs Wochen trugen wir jetzt Regenjacken, und von der Armut und dem Elend, die mein Vater bekämpfen wollte, hatten wir nicht wirklich etwas gesehen. Mein Vater operierte in einem privaten Krankenhaus Leute mit ordentlicher Krankenversicherung und meine Mutter testete im Labor Blutwerte. Was war daran anders als zu Hause? Hätten wir nicht wenigstens nach Cartagena gehen können? Das lag an der Karibikküste und ich hätte jeden Tag im Meer baden oder tauchen lernen können.
    Vermutlich grollte ich so vor mich hin, weil ich eigentlich mit mir selbst nicht zufrieden war. Wahrscheinlich sogar. Dabei gefiel es mir doch immerhin in der Schule. Ich war Klassenbeste und niemand fand das schlimm. Der Abstand von Vanessa tat mir auch gut. Das merkte ich erst jetzt. Sie hatte bestimmt, was wir machten und auf welche Partys wir gingen. Meine Vorschläge waren nie was wert gewesen. Ich war mir immer dumm und hässlich vorgekommen. Und es war mir nie egal gewesen, was sie von mir dachte. Eigentlich war es total der Stress gewesen. Das war am Colegio Bogotano ganz anders. Elena hörte zu, wenn ich was sagte. Niemand lehnte meine Vorschläge gleich ab, niemand lächelte verächtlich, wenn ich eine Meinung äußerte. Zum ersten Mal war ich ein angesehenes Mitglied einer Clique.
    Ein kalter Hauch streifte plötzlich meine nackten Arme. Ich schreckte aus meinen Grübeleien und guckte hoch zum Himmel. Er war immer noch sonnig und blau. Die Kälte kam aus dem Wald auf der anderen Straßenseite. Es war ein dichter grüner Wald an einem steilen Berghang. In dieser Stadt war die Grenze zwischen Stadt und Urwald scharf und undurchlässig.
    Auch der Fußweg hatte sich verändert. Er war brüchig und schmal geworden. Die Bordsteine waren gekippt, in den Asphalt versunken oder sie fehlten ganz. Die Häuser auf der anderen Straßenseite waren niedrig geworden, rot und gelb gestrichen mit Satellitenschüsseln auf den Balkonen.
    In dieser Gegend war ich noch nie gewesen. Doch in Bogotá konnte man sich
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