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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris
Autoren: Christine Lehmann
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Hals. Die Luft war einfach zu dünn hier, ich geriet immer noch schnell außer Atem. Und was hätte ich, wenn ich ihm hinterhergelaufen wäre und ihn eingeholt hätte, sagen sollen? Ich hatte meine Uhr ja wieder. Er hatte sie mir nicht gestohlen. Er hatte sie dem Äffchen abgenommen. Er hatte sich gemerkt, von welchem Balkon es heruntergesprungen war. Womöglich hatte er mich an anderen Sonntagen bereits dort oben gesehen. Warum auch nicht? Kein Grund, mich aufzuregen. Es war das Normalste von der Welt. Er hatte mich nicht beobachtet, er hatte mich nur gesehen. So wie ich ihn. Man sah sich eben, man kannte sich mit der Zeit in so einer Siedlung. Die Witwe aus der Schweiz sprach sogar hin und wieder mit ihm und anderen Angestellten. Sie war eine Dame mit vom Bräunen gegerbter Haut, Brille, rotem Lippenstift und vielen Goldketten um den Hals, eine von denen, die sich für knackige junge Männer interessierten, wie Papa einmal spöttisch bemerkt hatte.
    Ich würde bestimmt keinem kolumbianischen Gärtner hinterherlaufen. Das war schon mal klar. So was hatte ich nicht nötig. Auch wenn er total gut aussah, sich bewegte wie ein schwarzer Jaguar und sein Englisch besser geklungen hatte als das, was die Bettler auf der Straße einem an kaum verständlichen Worten hinterherriefen.
    Ich weiß nicht mehr genau, wie ich auf die Straße hinauskam. Da fehlt mir ein Stück in der Erinnerung. Ich erlangte gewissermaßen das Bewusstsein erst wieder, als ich auf dem Gehweg stand, mit dem Fuß auf den Boden stampfte und vor mich hin sagte: »So was Albernes! Bist du bescheuert oder was?«
    Ich hatte mich benommen wie eine Zwölfjährige, total kopflos: Ich hatte nicht gewusst, was ich sagen sollte, ich hatte einfach die Uhr eingesteckt und die Anlage verlassen, so als ob nichts geschehen wäre. Ich hatte nicht mal Danke gesagt. Das wäre doch das Mindeste gewesen. Irgendeine Äußerung, wie man sie unter vernünftigen, sprachbegabten Wesen tat: »Vielen Dank! Ich bin ja so froh, dass du dem Affen die Uhr abgenommen hast. Sie bedeutet mir viel. Sie ist ein Geschenk von meinem Freund!«
    Damit hätte ich auch gleich klargestellt, dass zwischen dem Burschen und mir nichts laufen konnte, absolut gar nichts.
    »Mann, bist du bescheuert!« Ich ertappte mich dabei, wie ich schon wieder mit dem Fuß auf die Gehwegplatten stampfte. Was für Überlegungen stellte ich denn da an? Das war doch gar nicht die Frage, ob zwischen dem Indio und mir was lief oder jemals laufen würde. Ich wusste nicht einmal, wie er hieß. Wir hatten keine drei Worte gewechselt – ich überhaupt keins und er drei, um genau zu sein –, und ich dachte schon daran klarzustellen, dass ich einen Freund hatte ...
    Dabei hatte ich keinen Freund. Es wäre eine Lüge gewesen. Na ja, so halb, denn Freund konnte man ja immer sagen, und wenn ein anderer dachte, ich meinte einen festen Freund, dann musste ich das nicht so gemeint haben. Auf jeden Fall war all das, was ich da gerade dachte, sowieso total daneben.
    Ich versuchte ruhig auszuatmen. Wieso nur hatte ich mich so aufgeregt? Wieso hatte ich eigentlich solche Angst gehabt? Elena hatte mich schon ganz blöd im Kopf gemacht mit ihren Schauergeschichten von Räubern, Entführern und Mördern. Ich hatte gleich sonst was gedacht. An Diebesbanden, an Messer in der Tasche, an Blut und Tod. Himmel! Dabei war alles ganz harmlos gewesen. Er hatte einfach nur gesehen, dass ein Äffchen etwas aus einem Zimmer geholt hatte. Vielleicht kannte er das Äffchen sogar. Es musste ja irgendwohin gehören mit seinem Halsband. Vielleicht wusste er sogar, dass es immer mal wieder etwas mitnahm, und hatte es deshalb angelockt und ihm die Uhr abgenommen. Dabei hatte er sich gemerkt, wo sie hingehörte.
    Hätte er nicht klingeln können?, fragte ich mich. Aber dann hätte er wissen müssen, welches Klingelschild an dem zehnstöckigen Häuserblock zu dem Balkon im zweiten Stock gehörte, auf dem er mich schon gesehen hatte. Oder er hätte meinen Namen wissen müssen. Und dazu hätte er sich mehr für die Bewohner der Anlage interessieren müssen, als es einem Gärtner vermutlich zustand.
    Also hatte er keine andere Wahl gehabt, als zu warten, bis ich erschien, und mir die Uhr dann zu geben. Und offenbar hatte er keine Lust gehabt, näher mit mir in Kontakt zu treten. Oder es war ihm verboten, die Töchter der Siedlungsbewohner anzusprechen. Vermutlich sogar. Wir Weißen könnten uns belästigt fühlen. Wahrscheinlich war das wirklich so.
    Etwas
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