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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris
Autoren: Christine Lehmann
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Sprachen. Sie enthielten alles, was das Leben ihrer Sprecher ausmachte: Wissen und Träume, das Reale und das Vorgestellte, Vergangenheit und Zukunft. Die Vision in Juanitas verlassener Hütte, als ich die Kautschukkugel zum ersten Mal mit der Hand umschloss, hatte es mir ja bereits gezeigt: Ich hatte mich als eine Art Sprecherin gesehen. Der Beruf der Dolmetscherin kam dem am nächsten. Ich wollte lernen, die Gedanken aus einer Sprache in eine andere zu übertragen. Ich wollte Brücken bauen zwischen den Kulturen. So würde der Friedensstifter, der Damián hatte sein wollen, in mir weiterleben. Auf meine Weise würde ich das Werk fortführen. Ich würde den Menschen helfen, miteinander zu reden.
    Meine Tante Valentina verstand mich sofort: »Dann musst du Ethnologie studieren, mit Schwerpunkt indigene Sprachen«, sagte sie. »Das kommt mir gerade recht. Ich suche schon lange einen Vertreter meiner Firma in Südamerika.«
    »Aber ich gehe nicht nach Kolumbien!«, antwortete ich.
    Der Schmerz wäre zu groß. Aber es war tatsächlich so, wie man immer sagte: Die Zeit heilt Wunden. Vielleicht nicht alle, aber viele. Eines Tages merkte ich, dass ich mich wieder in kolumbianische Internetseiten klicken konnte, ohne dass mich der Schmerz lähmte.
    Nach dem Abitur ging ich nach Berlin. Simons Geduld mit mir war unerschöpflich. Er wartete lange. Erst an meinem achtzehnten Geburtstag gestand er mir, dass er nie wirklich in Vanessa verliebt gewesen war. Vielmehr habe sie an ihm Interesse gehabt, was ihn – er sei halt ein Mann – gereizt und irgendwie auch verblendet habe. Doch es sei nie mehr als eine Verliebtheit gewesen. Er habe bald gemerkt, dass ich ihm viel mehr bedeutet habe. Simon war der erste Mann, mit dem ich schlief, kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag. Und seitdem weiß ich: Es ist vielleicht sogar ganz gut, wenn der erste Mann, mit dem man schläft, nicht die ganz große Liebe ist, sondern bloß eine kleine. Beim ersten Mal ist man viel zu aufgeregt und es passieren zu viele unbekannte Dinge. Bei mir jedenfalls läuteten die Kirchenglocken nicht, es gab keine Explosion der Sinne, ich kam nicht einmal richtig zum Höhepunkt. Aber es fühlte sich okay an.
     
    Und nun sind die Koffer gepackt. Am Wochenende war ich noch mal bei meinen Eltern am Bodensee. Mein Vater ist alt geworden, finde ich. Meiner Mutter geht es gut. Sie trägt wallende Kleider und malt Blumen. Tante Valentina hat mich herzlich an sich gedrückt. Von ihr habe ich zahlreiche Adressen in Bolivien, wo ich wohnen kann. Ich weiß allerdings noch nicht, ob ich einen Abstecher nach Kolumbien machen werde.
    Keinen Tag hat es in den acht Jahren gegeben, an dem ich nicht an Damián gedacht habe. Manchmal war es nur ein kurzer sanfter Hauch von Liebe gewesen, der meine Seele gestreift hatte, manchmal hatten mich Bilder und Gefühle überrollt.
    Ich besitze kein einziges Foto von ihm. Ich bin auf meine Erinnerung angewiesen. Ich sehe sein Gesicht mit dem klugen Lächeln, der steilen Falte zwischen den Brauen, ich spüre seine Finger, wie sie sich durch meine flechten, und wenn ich tief Luft hole, erinnere ich mich an den Geschmack seiner Lippen beim unserem letzten Kuss an der Pforte der Siedlung El Rubí in Bogotá. Manchmal liege ich auf meinem Bett, die Hand um die Kautschukkugel auf meinem Schlüsselbein geschlossen, und lasse mich treiben im smaragdfarbenen See meiner Gefühle. Mal wird es kalt, mal warm, mal trifft Damián und mich die Sonne, dann wieder geraten wir in den Schatten eines großen Baums. Das nehme ich mit in meine Zukunft.
    Heute Abend wird mich meine Mitbewohnerin zum Flughafen fahren. Ich habe mich von allen verabschiedet. Ob ich wirklich wiederkomme, weiß ich nicht. In bin in Deutschland nicht mehr wirklich heimisch geworden. Immer noch staune ich über all den Reichtum und die gemütliche Sicherheit unseres Lebens.
    Heute mache ich alles zum letzten Mal. Ich habe am Küchentisch Kaffee getrunken und dem Geschmack des kolumbianischen Tinto auf der Zunge nachgespürt. Zum letzten Mal gehe ich die Treppe hinunter zum Briefkasten und hole die Werbung heraus.
    Diesmal ist ein Brief darunter. Er kommt von weit her. Er ging zuerst an die Adresse meiner Eltern. Sie haben ihn mir nachgeschickt. Ich erschrecke. Er kommt aus Kolumbien.
    Den Absender kann ich entziffern: F. Melroy, Bogotá. Sie hat mir jahrelang nicht mehr geschrieben. Was für ein Zufall, dass ich ihren Brief an meinem letzten Tag in Deutschland noch bekomme. Ich
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