Der Ruf der Kiwis
doch selbst in England zur Schule gegangen. Vielleicht erwärmt er sich ja für die Idee.«
Ein Lächeln huschte über James’ Gesicht, als Lilians Name fiel. Noch eine Urenkelin, aber in diesem Fall Fleisch von seinem Fleisch. Elaine, Fleurettes Tochter, war in Greymouth verheiratet. Ihre Tochter Lilian war das älteste von vier Kindern. Das einzige Mädchen und eine Neuauflage von Gwyneira, Fleurette und Elaine: rothaarig, lebhaft und immer gut gelaunt. Gloria war zuerst ein wenig schüchtern gewesen, als sie im Jahr zuvor zusammen mit ihrer Urgroßmutter die Farm besucht hatte. Aber Lilian hatte das Eis schnell gebrochen. Sie plauderte ohne Punkt und Komma von ihrer Schule, ihren Freundinnen, ihren Pferden und Hunden zu Hause, ritt mit Gloria um die Wette und drängte sie, ihr Maori beizubringen und den Stamm auf Kiward Station zu besuchen. Zum ersten Mal hörte Gwyneira ihre Urenkelin Gloria mit einem anderen Mädchen kichern und Geheimnisse austauschen. Die zwei versuchten, Rongo Rongo, Hebamme und
tohunga
der Maoris, beim Schmieden eines Zaubers zu belauschen, und Lilian hütete das Stück Jade, das Rongo Rongo ihr schließlich schenkte, wie einen Schatz. Die Kleine wurde auch nicht müde, sich eigene Geschichten auszudenken.
»Ich frag meinen Dad, ob er mir den Stein fassen lässt«, erklärte sie gewichtig. »Dann hänge ich ihn mir an einer goldenen Kette um den Hals. Und wenn ich dann den Mann kennen lerne, den ich mal heirate, wird er ... wird er ...« Lilian schwankte zwischen »brennen wie glühende Kohlen« und »vibrieren wie ein wild pochendes Herz«.
Gloria konnte da nicht mithalten. Für sie war ein Stück Jade ein Stück Jade, kein Werkzeug, jemanden zu verzaubern. Doch Lilians Fantasien lauschte sie gern.
»Lilian ist noch jünger als Gloria«, gab James zu bedenken. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Elaine sich jetzt schon von ihr trennt. Egal was Tim dazu meint ...«
»Fragen kostet nichts«, erklärte Gwyn resolut. »Ich werde ihnen gleich schreiben. Was meinst du, müssen wir es Gloria sagen?«
James seufzte und fuhr sich durch sein ehemals braunes, jetzt weißes, aber immer noch wirres Haar. Eine für ihn typische Geste, die Gwyneira immer geliebt hatte. »Nicht heute und nicht morgen«, meinte er schließlich. »Aber wenn ich William richtig verstehe, fängt nach Ostern das neue Schuljahr an. Dann sollte sie in Cambridge sein. Gäbe es eine Verzögerung, würde man ihr keinen Gefallen tun. Wenn sie mitten im Jahr die einzige Neue ist, wird es umso schwerer für sie.«
Gwyn nickte müde. »Aber wir müssen es Miss Bleachum mitteilen«, meinte sie unglücklich. »Die muss sich schließlich eine neue Stellung suchen. Verflixt, da haben wir mal eine Hauslehrerin, die sich wirklich bewährt, und dann so was!«
Sarah Bleachum unterrichtete Gloria seit Beginn ihrer Schulzeit, und das Mädchen hing sehr an ihr.
»Na ja, zumindest wird Glory bestimmt nicht hinter den englischen Mädchen zurückstehen«, tröstete sich Gwyn.
Miss Bleachum hatte die Lehrerakademie in Wellington besucht und mit besten Zeugnissen abgeschlossen. Ihre besondere Liebe galt den Naturwissenschaften, und sie verstand, auch Glorias Interesse daran zu wecken. Die beiden vergruben sich mit Leidenschaft in Bücher, die von der Flora und Fauna Neuseelands handelten, und Miss Bleachums Begeisterung kannte keine Grenzen, als Gwyneira die Aufzeichnungen ihres ersten Gatten, Lucas Warden, hervorholte. Lucas hatte vor allem die Insektenpopulation seiner Heimat erforscht und katalogisiert. Miss Bleachum bestaunte seine peniblen Zeichnungen der verschiedenen Weta-Gattungen. Gwyneira betrachtete diese Kreaturen mit eher gemischten Gefühlen. Die Rieseninsekten waren ihr nie sonderlich sympathisch gewesen.
»Das war mein Urgroßvater, nicht?«, fragte Gloria stolz.
Gwyneira nickte. In Wirklichkeit war Lucas eher ihr Urgroßonkel gewesen, aber das musste das Kind nicht wissen. Lucas wäre glücklich über diese kluge Urenkelin gewesen, die endlich seine Interessen teilte.
Ob man Glorias Begeisterung für Insekten und sonstiges Getier allerdings auch in einer englischen Mädchenschule zu schätzen wusste?
2
»Lass das, ich kann allein aussteigen!«
Timothy Lambert wehrte die Hilfe seines Dieners Roly fast unwirsch ab. Dabei fiel es ihm an diesem Tag besonders schwer, die Beine vom Sitz des Gigs auf das Trittbrett zu schwingen, die Schienen anzulegen und dann mit Hilfe seiner Krücken Halt auf dem Boden zu finden.
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