Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
ihr das Richtige getan habt, indem ihr zu ihm
gegangen seid", meinte er. „Das war genau richtig. Und ihr habt es --
wie oft -- probiert, viermal?"
Rosa nickte.
„Er hat gedacht, wir nehmen ihn auf den Arm und verschwenden
seine Zeit."
„Dann habt ihr alles Menschenmögliche getan, und seine Antwort
ist nichts anderes als die Blindheit der Justiz. Das Resultat ist gerecht;
er wurde in Notwehr erschossen; dieses Recht steht jedem zu. Und es
gibt keine Spur von dem Mann?"
„Keine Spur", antwortete Frederick. „Er hat sich wahrscheinlich zu
seinem Schiff geschleppt. Entweder er ist jetzt tot oder auf dem Weg
in den Fernen Osten."
Mr. Bedwell nickte.
„Miss Lockhart, ich glaube, Sie haben getan, was notwendig war,
und Ihr Gewissen dürfte rein sein."
„Und was ist mit mir?" fragte Frederick ruhig. „Ich hab vorgehabt,
diesen Schuft von Mrs. Holland zu töten. Das hab ich auch zu ihm
gesagt. War das Mord?"
„Da Sie ein anderes Menschenleben verteidigt haben, war Ihre Tat
gerechtfertigt. Was Ihre Vorsätze anbetrifft -- das kann ich nicht
beurteilen. Sie werden wohl damit leben müssen, daß Sie vorsätzlich
einen Mann getötet haben. Aber ich hab mich selbst mit dem Kerl
rumgeschlagen, und mein Urteil fällt da nicht zu hart aus."
Fredericks Gesicht sah äußerst mitgenommen aus. Seine Nase war
gebrochen, und er hatte drei Zähne verloren. Seine Hände schmerzten
so sehr, daß er immer noch große Schwierigkeiten hatte, etwas zu
halten. Sally hatte geweint, als sie ihn gesehen hatte. Sie brach jetzt
immer leicht in Tränen aus.
„Wie geht's dem jungen Mann?" wollte Mr. Bedwell wissen.
„Jim? Er hat den Arm gebrochen und hübsche blaue Augen und
diverse Blutergüsse. Aber dem müßte man mit 'nem
Kavallerieregiment und 'ner Haubitze zu Leibe rücken, dann war er
erst ernsthaft verletzt. Was mir mehr Sorgen macht, ist, daß er seinen
Job verloren hat."
„Die Firma ist am Ende", sagte Sally. „Da geht's drunter und
drüber. In der Zeitung von heute steht ein Bericht."
„Und das kleine Mädchen?"
„Nichts", sagte Rosa. „Kein Ton. Keine Spur. Wir haben überall
gesucht -- in allen Waisenhäusern waren wir -- aber sie ist wie vom
Erdboden verschluckt."
Sie sprach nicht aus, was alle befürchteten.
„Mein armer Bruder hat sie sehr gern gehabt", sagte der Geistliche.
„Sie hat ihn an diesem gräßlichen Ort am Leben erhalten... nun, wir
dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Aber was ist mit Ihnen, Miss
Lockhart -- soll ich Sie Miss Lockhart nennen? Oder Miss
Marchbanks?"
„Ich hab sechzehn Jahre lang Lockhart geheißen. Und wenn ich das
Wort ,Vater' höre, denke ich an Mr. Lockhart. Ich weiß nicht, wie ich
offiziell heiße oder inwieweit Rubine vor Gericht eine Rolle spielen...
ich bin Sally Lockhart. Ich arbeite bei einem Photographen. Das allein
zählt."
    Aber dem war nicht so. Eine Woche verstrich, und Adelaide war
immer noch nicht aufgetaucht, trotz Tremblers endlosen Streifzügen
durch die Straßen und Nachfragen an Schulen und Arbeitshäusern.
Und Rosa fand immer noch keinen anderen Job und schlimmer noch:
das Stück, für das sie geprobt hatte, wurde auch abgesetzt. Jetzt gab es
in dieser Hinsicht überhaupt keine Einkünfte. Sie mußten von dem
leben, was der Laden einbrachte, und das war fast das Schlimmste --
denn da sie jetzt angefangen hatten, sich einen Namen zu machen und
Bilder zu verkaufen, mußten sie unbedingt auf dieser Grundlage
aufbauen, ehe das Publikum das Interesse verlor; und nun hatten sie
kein Geld, um die neuen Bilder, die sie aufnehmen müßten, zu
bezahlen.
    Sally versuchte es bei einem Lieferanten nach dem anderen, aber
keiner wollte ihnen Papier oder Chemikalien auf Kredit überlassen.
Sie setzte sich mit ihnen auseina nder, sie bettelte, sie schilderte den
Fall als äußerst dringend, hatte aber praktisch keinen Erfolg. Eine
Firma überließ ihnen etwas Papier zum Drucken, aber nicht genug;
das war der einzige Erfolg. Was die Druckerei betraf, die die
stereographischen Aufnahmen produzieren sollte, so hatte sie sich
geweigert, irgendwelche Vorauszahlungen zu machen, und
Tantiemen, die sie einmal beanspruchen könnten, waren
Zukunftsmusik und im Augenblick nutzlos. Einmal mußte Sally
Frederick davon abhalten, die Kamera zu verkaufen.
    „Bloß nicht das Inventar verkaufen", sagte sie zu ihm. „Bloß das
nicht. Wie sollten wir das denn nur zurückkaufen können? Was sollen
wir dann machen, wenn wir das Geschäft vergrößern wollen und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher