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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch
Autoren: Philip Pullman
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alles mitangesehen hat! Nicht Ihr Mann!"
„Ja und? Ja, ich hab alles gesehn. Und noch mehr: Ich hab die
Männer reingelassen, die ihn umgebracht haben. Und als er starb, hab
ich gelacht..."
Bei dem Gedanken daran lächelte sie. Sally konnte nichts von der
Schönheit entdecken, die sie gehabt haben sollte. Nichts war
übriggeblieben -- nichts außer Alter und Grausamkeit. Und doch
glaubte Sally ihr, und sie tat ihr leid
-- bis sie sich an Major
Marchbanks erinnerte und seine eigenartige Sanftheit am Tag ihrer
Begegnung, die Art und Weise, wie er das Mädchen, das seine
Tochter war, angeschaut hatte... Nein, sie tat ihr nicht leid.
Sie nahm den Rubin in die Hand.
„Und ist das die ganze Wahrheit?"
„Alles, was wichtig ist. Gib her -- er gehört mir. Mir gehört er noch
vor deinem Vater, vor dir und vor Lockhart. Ich bin gekauft worden
mit diesem Stein -- genau wie du. Wir beide, jeder von uns ist mit
einem Rubin gekauft worden... gib ihn jetzt her."
„Ich will ihn nicht", sagte Sally. „Er hat nichts als Tod und Unglück
gebracht. Mein Vater wollte, daß ich ihn bekomme und nicht Sie, aber
ich will ihn nicht. Ich gebe meinen Anspruch auf. Und wenn Sie ihn
wollen - " sie hielt ihn in die Luft -- „dann holen Sie ihn."
Und sie warf ihn über die Brüstung. Mrs. Holland stand völlig
regungslos da. Beide hörten das schwache Aufspritzen tief unten, als
der Stein auf das Wasser auftraf; und dann wurde Mrs. Holland
verrückt.
Zuerst lachte sie und warf den Kopf wie ein junges Mädchen und
tätschelte ihn zufrieden, als sei das nicht eine schmutzige alte Haube,
sondern eine Fülle dunkler, glänzender Locken.
Dann sagte sie: „Meine Schöne. Meine hübsche Molly. Du sollst
einen Rubin haben für deine wunderschönen Arme, deine blauen
Augen, deine roten Lippen..."
Dann fiel ihr das Gebiß aus dem Mund. Sie achtete nicht darauf,
redete zusammenhangloses Zeug, und ihre Haube verrutschte und
verdeckte die Hälfte ihres Gesichts. Sie stieß Sally beiseite und
kletterte auf die Brüstung. Einen Augenblick lang schwankte sie wie
wild; Sally streckte erschrocken die Hand aus, griff aber ins Leere, als
die alte Frau ins Wasser stürzte. Sie fiel lautlos. Sally legte die Hände
auf die Ohren; sie fühlte den Aufprall eher, als daß sie ihn hörte. Mrs.
Holland war tot. Sally sank auf die Knie und weinte.
    Und am nördlichen Ende der Brücke schlug der Droschkenkutscher
leicht mit seiner Peitsche und zog die Zügel an, so daß sich die
Droschke in Bewegung setzte. Sie fuhr im Schritt die Straße entlang
und hielt neben ihr an. Sie schluchzte immer noch; durch einen
Tränenschleier schaute sie hoch. Das Gesicht des Kutschers war im
Dunkeln, der Passagier -- falls es einen geben sollte -- nicht zu sehen.
Die Tür öffnete sich. Eine Hand hielt sie
-- eine große,
sonnenverbrannte Hand mit hellen Härchen auf dem Handrücken.
    Eine Stimme, die sie noch nie zuvor gehört hatte, sagte: „Bitte
steigen Sie in die Droschke, Miss Lockhart. Wir haben etwas zu
besprechen."
    Sprachlos stand sie auf. Immer noch schüttelte es sie von Zeit zu
Zeit vor Schluchzen, aber das geschah automatisch: sie war baff vor
Staunen.
    „Wer sind Sie?" brachte sie heraus.
„Ich habe viele Namen. Vor kurzem habe ich Oxford unter dem
Namen Eliot besucht. Vor einigen Tagen hatte ich eine Verabredung
mit Mr. Selby; da habe ich den Namen Todd benutzt. Im Fernen Osten
kennt man mich zuweilen als Ah Ling; aber mein richtiger Name ist
Hendrik van Eeden. Steigen Sie ein, Miss Lockhart."
Hilflos gehorchte sie. Er schloß die Tür, und die Droschke setzte
sich in Bewegung.
EAST INDIA DOCKS
    Sally hielt ihre Tasche fest auf ihrem Schoß. Darin befand sich die
geladene Pistole, die sie für den unsichtbaren Feind gekauft hatte. Und
jetzt hatte sie ihn vor sich... Sie merkte, wie die Droschke nach rechts
abbog, nachdem sie die Brücke hinter sich hatte, und die Lower
Thames Street in Richtung Tower fuhr. Zitternd saß sie in einer Ecke
und wagte vor lauter Angst kaum zu atmen. Der Mann sagte nichts
und rührte sich nicht. Sie spürte seinen Blick auf sich und bekam eine
Gänsehaut. Die Droschke bog nach links ab und fuhr durch ein
Labyrinth von Gassen, die schwächer beleuchtet waren.
„Wo fahren wir hin?" fragte sie mit zitternder Stimme.
    „Zu den East India Docks", antwortete er. „Und dann können Sie
mitkommen oder auch dableiben."
Seine Stimme klang sanft und etwas heiser. Er sprach ohne die Spur
eines Akzents, aber er
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