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Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman
Autoren: Franzisika Haeny
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x erschossen hat. Ich habe ihnen nicht helfen können. Einmal sehe ich einen toten Fuchs. Er wollte unter dem Zaun durch. Er hat sich durchgraben wollen und scheint an etwas hängengeblieben zu sein. Sein Kopf ist unter dem Zaun verborgen. So ist er dann gestorben; er konnte offenbar nicht mehr zurück. Man sieht gut, dass das, was da liegt, ein Fuchs war; er ist wohl noch nicht lange tot, aber schon hat es Ameisen, die zu ihm hinziehen. Ich gehe und gehe. Ob Martin draussen vor dem Tor wartet?
    Dann sehe ich das Ende des Waldes. Und dann liegt der Wald hinter mir. Vor mir zur Linken liegt das grosse Gebäude mit dem Flachdach (ein Helikopterlandeplatz, ich erinnere mich). Aber ich gehe am Zaun weiter. Ich will diese Tiere in den Käfigen sehen. Ich grause mich davor. Aber ich weiss, dass es ein Unrecht ist, dass ich sie habe vergessen können, dass ich sie sozusagen ausgeblendet habe. Ich höre sie, ich rieche sie, lange bevor ich sie sehe. Ob sie immer schreien, Tag und Nacht? Ob sie immer hin und her, auf- und abrennen? Wie ich an der ersten Käfigreihe bin, sehe ich, dass unter den Käfigen die Scheisse der Tiere liegt, darum stinkt es so. Ich sehe in den vordersten Käfig hinein. Ich blicke jetzt wirklich hinein, ich versuche zu erfassen, was da vorgeht. Drei dieser Tiere sind in diesem Metallgitterkubus, der etwa dreissig mal dreissig Zentimeter gross ist. Die Tiere bewegen sich seltsam simultan; sie springen gleichzeitig auf und ab, am Gitter hoch. Sie schreien. Ihre kleinen Hände umklammern das Gitter vor meinem Gesicht und lassen es los. Das Furchtbarste ist, dass sie sich so gleichmässig synchron bewegen. Im nächsten Käfig ist es genauso. Und die Käfigreihe ist so lang, je weiter sie weg ist, desto schmaler wirkt sie. Es sind viele solche Käfigreihen, nicht nur eine. Es ist grauenvoll, diesen drei Tieren zuzuschauen. Auch nach fünf Minuten, in denen ich in den einen Käfig hineingeschaut habe, hören sie nicht mit ihren stereotypen Sprüngen auf. Ich warte. Aber es ändert sich nichts. Und wenn sich etwas änderte, was wäre gewonnen? Ich glaube jetzt zu wissen, was Martin hier will.
    Ich drehe mich um und gehe zum Haus zurück, zum Eingangstor. Ich mache mich darauf gefasst, wieder warten zu müssen, bevor er mich einlässt. Ich drücke auf den Klingelknopf und schaue dann auf meine Armbanduhr. Der Sekundenzeiger hat gerade einmal seine Runde gedreht, da öffnet x . Nachdem ich Mantel und Stiefel an ihren Platz zurückgebracht habe, steige ich die weisse Treppe hoch in die Halle. Wie erwartet, sitzt x auf seinem Podest zwischen Bildschirmen und Computern. Das Licht dringt jetzt wieder vor allem durch die Fenster hinter ihm, und so ist er nur als Umriss zu erkennen: Kaspars Kopf, Kaspars Schultern und Kaspars Stimme, die sagt: »Du hast versagt.«
    »Ja«, sage ich.
    Ich stehe vor ihm (ein recht grosser Abstand trennt uns) und schaue in Richtung seines Kopfes. Was soll ich argumentieren gegenüber dem, was er eben gesagt hat? Ich merke, dass ich zum ersten Mal diesen jahrzehntealten Gedanken so formuliert habe. Bislang habe ich all die Jahre gedacht: Was kann ich argumentieren …
    »Koch etwas, ich will ein Mittagessen«, sagt nach einer Pause Kaspars Stimme, die aus Kaspars Schatten tönt.
    »Ja«, sage ich.
    Ich drehe mich um, gehe zur Türe rechts und höre hinter meinem Rücken noch seinen eifrig-giftigen Ruf: »In einer halben Stunde! Sonst!«
    Ich kenne dieses »Sonst!«, er gebraucht es immer, um mir Schrecken einzujagen. Ich spüre das »Sonst!« im Rücken und im Hinterkopf, ich spüre es auch noch, nachdem ich die Türe zum Konferenzraum hinter mir geschlossen habe.
    Ich habe gestern Fischfilets aus einer Tiefkühltruhe in den Kühlschrank gelegt. So ist es kein Problem für mich, seinen Befehl zu befolgen und ihm, eine halbe Stunde später, ein annehmbares Essen hinzustellen. Wir essen schweigend. Einmal unterbricht er das Schweigen und meint, ich sei offenbar nicht in jeder Hinsicht unfähig. Ich reagiere nicht darauf. Ich habe nie etwas gesagt.
    Ich fürchte mich, während ich am unteren Ende des Konferenztisches das Essen, das ich vorher zubereitet habe, kaue. Ich fürchte mich während des ganzen Essens und ich fürchte mich, während ich das Geschirr, die Pfanne und den Topf abwasche. Ich spüre die Furcht ganz stark im Hals. Nachdem ich alles eingeräumt habe, wasche ich nochmals meine Hände, ich trockne sie und sehe, wie sie zittern. Ich lege sie vor mich auf die Tischplatte und
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