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Der Richter

Der Richter

Titel: Der Richter
Autoren: John Grisham
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improvisierte Partys, der Sommer vor der Tür. Er war dreiundvierzig Jahre alt, seit fünfunddreißig Monaten wieder Single und wünschte sich jetzt, selbst wieder Student zu sein. Alle behaupteten, das Lehren erhalte einen jung, und vielleicht hatten sie in dem Punkt Recht, dass man tatkräftig und geistig auf der Höhe blieb. Aber Ray verspürte den Wunsch, da vorn bei den Angebern auf einem Kühlbehälter zu sitzen und mit den Studentinnen zu flirten.
    Eine kleine Gruppe Kollegen stand lächelnd am Fangzaun, während das Professorenteam in einer wenig beeindruckenden Aufstellung das Spielfeld betrat. Einige humpelten, die Hälfte trug Kniebandagen. Ray entdeckte Carl Mirk - einer der Stellvertreter des Dekans und sein bester Freund -, der an einem Zaun lehnte. Er hatte die Krawatte gelockert und das Jackett über die Schulter geworfen.
    »Ein trauriges Team«, bemerkte Ray.
    »Warte, bis sie zu spielen beginnen«, antwortete Mirk.
    Carl stammte aus einer Kleinstadt in Ohio, wo sein Vater Richter, der örtliche Heilige und jedermanns Großvater zugleich war. Auch er war geflohen und hatte sich geschworen, nie wieder in seine Heimat zurückzukehren.
    »Das erste Spiel habe ich verpasst«, sagte Ray.
    »Es war zum Heulen. Siebzehn zu null nach zwei Durchgängen.«
    Der erste Schlagmann der Studenten ließ den Ball in eine Lücke auf dem linken Außenfeld sausen. Eigentlich hätte er mit diesem Schlag nur das zweite Mal sicher erreichen dürfen. Aber als der linke Außenfeldspieler und der Centerfeldspieler endlich hinübergehumpelt waren, sich um den Ball gebalgt, dagegen getreten und sich gegenseitig behindert hatten, bevor sie ihn in Richtung Innenfeld warfen, konnte der Läufer im Spaziergang einen Home Run verbuchen. Damit waren zumindest schon mal die Ehren-punkte eingefahren. Die Horden an der linken Feldseite wurden fast wahnsinnig, die Studenten auf den Tribünen forderten lautstark weitere Patzer.
    »Es wird noch schlimmer kommen«, kommentierte Mirk.
    So war es. Nach ein paar weiteren Katastrophen hatte Ray genug gesehen. »Anfang nächster Woche werde ich aus der Stadt verschwinden«, sagte er. »Man hat mich nach Hause bestellt.«
    »Du wirkst richtig begeistert«, bemerkte Carl. »Wieder mal eine Beerdigung?«
    »Noch ist es nicht so weit. Mein Vater hat ein Familientreffen einberu-fen, um über sein Erbe zu sprechen.«
    »Das tut mir Leid.«
    »Muss es nicht. Es gibt nicht viel, worüber man diskutieren könnte, nichts, weshalb sich ein Streit lohnte. Dennoch wird es wahrscheinlich unangenehm werden.«
    »Wegen deinem Bruder?«
    »Keine Ahnung, ob mein Bruder oder mein Vater mehr Scherereien machen werden.«
    »Ich bin in Gedanken bei dir.«
    »Danke. Ich werde meine Studenten Informieren und sie an Kollegen verweisen. Damit sollte alles geregelt sein.«
    »Wann fährst du?«
    »Ain Samstag. Wahrscheinlich bin ich am Dienstag oder Mittwoch zu-rück, aber genau kann ich’s nicht sagen.«
    »Na, wir sind ja hier«, sagte Mirk. »Hoffentlich ist dann auch das dritte Spiel gelaufen.«
    Ein langsamer Bodenball trudelte ungehindert zwischen den Beinen des Pitchers hindurch.
    »Das war’s dann wohl«, sagte Ray.

    Nichts verdarb Ray die Stimmung so sehr wie der Gedanke, sich nach Hause begeben zu müssen. Seit über einem Jahr war er nicht mehr nach Clanton gefahren, und selbst wenn der Ausflug noch in ferner Zukunft gelegen hätte, wäre das schlimm genug gewesen.
    Nachdem er sich in einem mexikanischen Restaurant mit Straßenverkauf ein Burrito gekauft hatte, aß er es in einem Café in der Nähe der Schlitt-schuhbahn, wo sich die übliche Bande schwarzhaariger Grufties versammelt hatte und die Leute erschreckte. Aus der alten Main Street war eine sehr hübsche Fußgängerzone mit Cafés, Antiquitätengeschäften und Buch-handlungen geworden, und wenn das Wetter schön war - womit man in dieser Gegend meistens rechnen konnte -, stellten die Restaurantbesitzer Tische und Stühle für ausgedehnte Abendmahlzeiten vor die Tür.
    Nachdem Ray urplötzlich wieder zum Single geworden war, hatte er das malerische Reihenhaus verkauft und war in die Innenstadt gezogen, wo die meisten alten Häuser renoviert und einem zeitgemäßen, urbanen Lebensstil angepasst worden waren. Seine Vier-Zimmer-Wohnung lag über dem Laden eines persischen Teppichhändlers. Der kleine Balkon befand sich auf der Seite der Fußgängerzone, und mindestens einmal im Monat lud Ray seine Studenten zu Lasagne und Wein zu sich ein.
    Es war schon
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