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Der Richter

Der Richter

Titel: Der Richter
Autoren: John Grisham
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hundertneununddreißig Tagen.«
    »Großartig.«
    Einerseits fand Ray das wirklich großartig, andererseits auch wieder nicht. jeder Tag ohne Alkohol oder Drogen war eine Erleichterung, aber es war entmutigend, auch nach zwanzig Jahren noch immer zählen zu müssen.
    »Und ich habe einen Job«, verkündete Forrest stolz.
    »Prima. Was machst du?«
    »Ich arbeite für ein paar von diesen Anwälten, die Unfallopfer als Klien-ten zu gewinnen versuchen. Das ist eine Bande schmieriger Dreckskerle, die im Kabelfernsehen Werbespots schalten und in den Krankenhäusern herumlungern. Ich bringe die armen Teufel dazu, den Vertrag zu unterschreiben, und mache so meinen Schnitt.«
    Einen so schäbigen Job angemessen zu würdigen, fiel Ray äußerst schwer, aber bei Forrest war jede Anstellung eine gute Nachricht. Er hatte sich als gewerblicher Kautionssteller verdingt, war Gerichtsdiener, Inkas-so-Eintreiber, Sicherheitsbeamter und Detektiv gewesen. Irgendwann in seinem Leben hatte er es praktisch mit jedem untergeordneten Job versucht, der im Justizwesen zu finden war.
    »Nicht übel«, sagte Ray.
    Forrest begann, eine Geschichte über eine handgreifliche Auseinandersetzung in der Notaufnahme eines Krankenhauses zu erzählen, aber Rays Gedanken schweiften ab. Einmal hatte sein Bruder als Rausschmeißer in einer Stripteasebar gearbeitet, doch das war nicht von langer Dauer gewesen, weil er in einer Nacht gleich zweimal zusammengeschlagen worden war. Ein volles Jahr lang war er mit einer neuen Harley-Davidson durch Mexiko gefahren. Es war nie geklärt worden, woher das Geld für die Reise stammte. Schließlich hatte er sich noch als Handlanger eines Kredithals aus Memphis verdingt, aber auch dabei hatte sich gezeigt, dass er sich bei Prü-
    geleien nicht durchsetzen konnte.
    Ehrliche Arbeit war nie Forrests Ding gewesen, doch wenn man fair sein wollte, musste man auch einräumen, dass die Personalabteilungen der Firmen sich stets von seinen Vorstrafen abschrecken ließen: zwei Verbrechen, beide in Verbindung mit Drogen. Beide hatten sich schon vor seinem zwanzigsten Geburtstag ereignet, aber dennoch war seine weiße Weste für immer beschmutzt.
    »Willst du noch mit dem alten Herrn telefonieren?«, fragte Forrest.
    »Nein, ich sehe ihn ja am Sonntag«, antwortete Ray.
    »Wann wirst du in Clanton sein?«
    »Keine Ahnung, vermutlich so gegen fünf Uhr. Und du?«
    »Gott hat fünf gesagt, richtig?«
    »Allerdings.«
    »Dann komme ich kurz nach fünf. Bis dann, Bruderherz.«
    Noch eine Stunde lang schlich Ray um das Telefon herum. Einmal beschloss er, bei seinem Vater anzurufen und hallo zu sagen, dann entschied er sich doch wieder dagegen, weil alles, was zu besprechen war, auch am Sonntag besprochen werden konnte. Der Richter verabscheute Telefone, und zwar besonders dann, wenn sie mitten in der Nacht klingelten und ihn aus seiner Einsamkeit aufschreckten. Meistens ging er gar nicht an den Apparat, und wenn er doch abnahm, war er meistens so grob und unfreundlich, dass der Anrufer seine Entscheidung sofort bereute.
    Er würde eine schwarze Hose und ein mit kleinen Brandflecken von der Pfeifenasche übersätes weißes Hemd tragen - ein gestärktes weißes Hemd. Das hatte der Richter schon immer so gehalten. Ein weißes Baumwollhemd hielt bei ihm ein Jahrzehnt, und zwar unabhängig von der Anzahl der Flecken und Brandlöcher. Jede Woche wurde es bei Ma-be’s Cleaners gewaschen und gestärkt. Seine Krawatte würde langweilig gemustert, farblos und genauso alt wie das Hemd sein. Dazu kamen die unvermeidlichen blauen Hosenträger.
    Und er würde geschäftig am Schreibtisch seines Arbeitszimmers sitzen, unter dem Porträt von General Forrest, nicht etwa auf der Veranda, um dort die Ankunft seiner Söhne zu erwarten. Zweifellos würde er sie glauben machen wollen, dass er selbst am Sonntagnachmittag Arbeit zu erledigen hatte und dass ihr Besuch für ihn nicht so wichtig war.

4
    Die Fahrt nach Clanton dauerte etwa fünfzehn Stunden, wenn man gemeinsam mit den LKWs die verkehrsreichen vierspurigen Autobahnen benutzte und sich durch die Nadelöhre der Umgehungsstraßen zwängte.
    War man in Eile, konnte die Reise also ohne Übernachtung bewältigt werden. Aber Ray hatte es nicht eilig.
    Er packte ein paar Sachen in den Kofferraum seines Audi-TT-Roadster - eines offenen Sportzweisitzers, den er erst seit einer knappen Woche sein Eigen nannte. Da sich hier niemand dafür interessierte, wann er kam oder ging, war jede Verabschiedung
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