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Der Richter

Der Richter

Titel: Der Richter
Autoren: John Grisham
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vernichtende Niederlagen einstecken.
    Bis man den alten Atlee dazu gebracht hatte, endlich sein Büro im zweiten Stock des Gerichtsgebäudes zu räumen, gingen drei volle Jahre ins Land.
    Das Büro hatte ein Feuer überdauert und war bei zwei Renovierungen des Gebäudes nicht berücksichtigt worden, da der Richter sich weigerte, Anstreicher oder Handwerker in sein Refugium zu lassen. Erst als die County-Offiziellen ihm klar mach ten, dass er das Büro verlassen oder im Zuge einer Zwangsräumung mit dein Rauswurf rechnen musste, packte der Richter endlich seine Sachen. Nachdem er mittlerweile nutzlos gewordene Akten aus drei Jahrzehnten, Notizen und verstaubte alte Bücher in Pappkartons verstaut und damit in sein Haus transportiert hatte, stapelte er sie in seinem Arbeitszimmer. Als dort kein Platz mehr war, benutzte er den Flur zum Esszimmer und sogar die Diele.
    Ray nickte einem im Korridor sitzenden Studenten zu und sprach vor seinem Büro kurz mit einem Kollegen. Dann trat er ein, verschloss die Tür und legte die Post auf seinen Schreibtisch. Nachdem er das Jackett ausgezogen und an einen Haken an der Tür gehängt hatte, stieg er über einen Stapel dicker juristischer Fachbücher, die ihm schon seit über einem halben Jahr im Weg lagen. Dabei wiederholte er seinen täglichen Schwur, endlich sein Büro aufzuräumen.
    Der Raum war etwa sechzehn Quadratmeter groß. Es gab einen kleinen Schreibtisch und ein kleines Sofa, und auf beiden stapelte sich genügend unerledigte Arbeit, um Ray als einen sehr beschäftigten Mann erscheinen zu lassen. Doch das war er nicht. Im Sommersemester lehrte er lediglich über einen Paragrafen des Kartellrechts. Außerdem sollte er ein Buch schreiben, einen weiteren langweiligen, weitschweifigen Wälzer über die Monopolproblematik, den niemand lesen, der sich aber neben dem Vorgän-gerwerk gut machen würde. Zwar hatte Ray eine feste Anstellung als Professor, aber genau wie für alle anderen seiner seriösen Kollegen galt auch für ihn die Maxime »Wer schreibt, der bleibt«, die das akademische Leben heute dominierte.
    Ray setzte sich an seinen Schreibtisch und räumte lästige Papiere aus dem Weg
    Dann studierte er die auf das Kuvert geschriebene Adresse: Professor N.
    Ray Atlee, Universität von Virginia, Juristische Fakultät, Charlottesville, Virginia. Die Buchstaben »F«, und »0« drängten sich zu dicht an ihre Nachbarn, ein neues Farbband wäre schon vor einem Jahrzehnt fällig gewesen. Auch von Postleitzahlen hielt Atlee senior nichts.
    Das »N« stand für »Nathan«, als Reminiszenz an den Bürgerkriegsgene-ral, aber das wusste kaum jemand. Bei einer der heftigeren Auseinanderset-zungen mit seinem Vater war es um die Entscheidung des Sohnes gegangen, auf »Nathan« zu verzichten und sich nur als »Ray« durchs Leben zu schlagen.
    Der Richter schickte seine Briefe stets an die juristische Fakultät, nie an die Privatadresse seines Sohnes in der Innenstadt von Charlottesville. Im-posante Adressen gefielen dem alten Mann, und alle in Clanton, selbst die Angestellten der Post, sollten wissen, dass sein Sohn Juraprofessor war.
    Allerdings war das überflüssig. Mittlerweile lehrte und publizierte Ray seit dreizehn Jahren, und die Leute, die in Ford County wirklich eine Rolle spielten, wussten längst Bescheid.
    Nachdem er das Kuvert geöffnet hatte, entfaltete er den Briefbogen, auf dem gleichfalls in pompöser Goldprägung der Name, der frühere Titel und die ehemalige berufliche Adresse des Richters prangten. Auch hier fehlte die Postleitzahl. Offenbar hatte der alte Mann einen unerschöpflichen Vor-rat von diesem Briefpapier und diesen Kuverts.
    Das Schreiben richtete sich an Ray und dessen jüngeren Bruder, Forrest, die einzigen Kinder einer unglücklichen Ehe, die im fahr 1969 durch den Tod ihrer Mutter zu Ende gegangen war. Der Brief war kurz - wie üblich: Trefft bitte entsprechende Vorkehrungen, am Sonntag, den 7. Mai, um 17.00 Uhr in meinem Arbeitszimmer zu erscheinen, damit ich mit euch über mein Erbe reden kann. Mit freundlichen Grüßen, Reuben V. Atlee.

    Die unverwechselbare Unterschrift war kleiner als früher und verriet eine zittrige Hand. Jahrelang hatte sie auf gerichtlichen Verfügungen und Urteilen geprangt und so den Verlauf zahlloser Leben verändert. Scheidungen, Fürsorgerechtsfälle, die Aussetzung elterlicher Rechte, Adoptionsangele-genheiten, Streitigkeiten über Erbschaften, Wahlen oder Grund und Boden
    - alles war dabei gewesen. Die Unterschrift
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