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Der Richter

Der Richter

Titel: Der Richter
Autoren: John Grisham
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Maßnahmen vor dem Start durchgegangen war, meldete er sich beim Tower. Vor ihm war ein Linienflug dran; nach zehn Minuten im Cockpit erhielt er die Starterlaubnis. Beim Start lief alles glatt, und Ray steuerte die Maschine in westlicher Richtung auf das Shenandoah Valley zu.
    Bei gut zwölfhundert Metern Flughöhe überquerte er den Afton Mountain, der sich ziemlich dicht unter ihm befand. Ein paar Sekunden lang geriet die Cessna durch eine Bergturbulenz etwas ins Schlingern, aber das war nichts Außergewöhnliches. Als Ray die Ausläufer der Berge hinter sich gelassen hatte und sich über Weiden und Feldern befand, flog er an einem ruhigen, windstillen Himmel dahin. Offiziell betrug die Sichtweite dreißig Kilometer, aber in dieser Höhe konnte er sehr viel weiter blicken, da kein einziges Wölkchen zu sehen war. Bei tausendfünfhundert Metern tauchten langsam die Gipfel von Westvirginia am Horizont auf. Nachdem er auf einer Checkliste abgehakt hatte, was während des Flugs überprüft werden sollte, stellte er den Gashebel auf Normalbetrieb. Dann entspannte er sich -
    zum ersten Mal, seit er das Flugzeug vor dem Start auf der Rollbahn in Position gebracht hatte.
    Die Stimmen aus dem Funkgerät verstummten, und das würde sich erst wieder ändern, wenn er den Empfang auf den sechzig Kilometer weiter südlich gelegenen Roanoke-Tower umstellte. Aber er beschloss, Roanoke zu meiden und sich weiter im unkontrollierten Luftraum aufzuhalten.
    Aus persönlicher Erfahrung wusste Ray, dass es in der Gegend von Charlottesville Psychotherapeuten gab, die pro Stunde zweihundert Dollar berechneten. Dagegen war Fliegen fast schon ein Sonderangebot - und au-
    ßerdem sehr viel wirkungsvoller. Nichtsdestotrotz war der Therapeut, der ihm damals vorgeschlagen hatte, sich ein Hobby zu suchen, sehr gut gewesen. Ray hatte ihn aufgesucht, weil er einfach mit jemandem sprechen musste. Exakt einen Tag, nachdem die frühere Mrs. Ray Atlee die Scheidung eingereicht, ihren Job gekündigt und das Haus nur mit ihren Kleidungsstücken und ihrem Schmuck verlassen hatte - wofür sie bei ihrer skrupellosen Effizienz weniger als sechs Stunden benötigte -, verließ Ray die Praxis des Therapeuten zum letzten Mal. Er fuhr zum Flugplatz, stolperte ins »Cockpit« und hörte sich die ersten Unverschämtheiten an. Ob sie von Dick Docker oder Fog Newton gekommen waren, wusste er nicht mehr genau.
    Die Schmähungen taten ihm gut; immerhin kümmerte sich auf diese Weise jemand um ihn. Weitere Invektiven folgten, aber der verwirrte und mitgenommene Ray fand eine Art neues Zuhause. Seit drei Jahren zog er nun bei gutem Wetter los und schwebte einsam am klaren Himmel über den Blue Ridge Mountains und dem Shenandoah Valley dahin. Dabei besänf-tigte er seinen Zorn, vergoss ein paar Tränen oder sprach mit einem imagi-nären Partner auf dem Sitz neben sich über sein unglückliches Leben. Die Antwort des leeren Sitzes war immer dieselbe: Sie ist fort.
    Manche Frauen verschwinden und kommen irgendwann zurück. Andere machen sich aus dem Staub und unterziehen sich dann einer schmerzhaften Überprüfung ihres Entschlusses. Wieder andere setzen ihre Entscheidung mit einer solchen Entschlossenheit in die Tat um, dass sie nie zurückblicken. Vickis Abschied aus seinem Leben war so gut geplant und so kaltblü-
    tig inszeniert worden, dass Rays Anwalt nur ein Kommentar eingefallen war: »Geben Sie auf, Kollege.«
    Sie hatte schlicht einen besseren Deal gemacht. Wie ein Spitzensportler, der kurz vor Schließung des Transfermarkts das Team wechselte, entschied sie sich für das lukrativere Angebot. Trikotwechsel, ein Lächeln für die Kameras, Vergangenheit abhaken. Eines schönen Tages, Ray war gerade in der Universität, verschwand sie in einer Limousine mit angehängtem Wohnwagen, in dem sie ihre Sachen verstaut hatte. Schon zwanzig Minuten später spazierte sie in ihr neues Zuhause, ein zu einer Pferdefarm gehö-
    rendes Landhaus, wo Lew »der Liquidator« sie mit offenen Armen und einem vorehelichen Abkommen in der Tasche erwartete. Lew war ein skrupelloser Unternehmensliquidator, was ihm Rays Recherchen zufolge etwa eine halbe Milliarde eingetragen hatte. Mit vierundsechzig Jahren hatte er sein Geld genommen, der Wall Street den Rücken gekehrt und aus irgendeinem Grund ausgerechnet Charlottesville als neuen Wohnsitz gewählt.
    Irgendwann lief ihm dort Vicki über den Weg. Er bot ihr ein Geschäft an, schwängerte sie und wurde so zum Vater der Kinder, die Ray
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