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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur
Autoren: Dimitri Stachow
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völlig gleich gearteten, gerügt.
    Mein Vater schlug mich nie, doch seine Strafen waren hart: Er verhängte Stubenarrest, ließ mich mehrmals täglich die Fußböden wischen. Oder – was am schlimmsten war – er kontrollierte persönlich meine Hausaufgaben, penibel, bis zum letzten Buchstaben. Er machte es mir zur Pflicht, gut zu lernen. Ja, gut – nicht sehr gut: Neben sehr guten Noten in den einen Fächern leistete ich mir, von meinem Vater dazu angehalten, in anderen ein Gut oder sogar ein Befriedigend. Mein Vater wollte nicht, dass ich Bestschüler war, und verhinderte mit dem Bremsen meines Lerneifers, dass ich den Abschluss mit Medaille machte. Er schien mich nach einem nur ihm bekannten Plan formen zu wollen.
    Weder tadelte noch lobte er mich ausdrücklich. Überhaupt redete er mit mir, seiner Gewohnheit entsprechend, in kurzen, gestanzten Sätzen. Dafür hörte er sich gern an, was in der Schule gewesen war, wobei er alles bis in die kleinsten Einzelheiten beschrieben, alle, die ich erwähnte, beurteilt haben wollte und verlangte, ich solle mir mal überlegen, was dieser oder jener – Klassenkamerad, Lehrer – hätte tun können, aber nicht getan hatte, und erklären, warum sich der Betreffende so und nicht anders verhalten hatte.
    Männer gab es unter den Lehrern nur wenige, und mein Vater musste sich damit abfinden, dass das Wort »sie« in meinen Reden ständig vorkam. Die Lehrerinnen waren für ihn jedoch im Grunde geschlechtslose Wesen, die einfach für das eine oder andere Unterrichtsfach standen. Er wollte, dass ich in der Chemielehrerin Wasserstoffmolekülketten, in der Lehrerin für Literatur und Russisch ein Gemisch aus schablonenhaften Mustern literarischer Helden und grammatischen Fällen, in der Mathematiklehrerin einen Haufen Formeln sah.
    Nicht nur, dass ich nichts über die Mädchen aus unserer Klasse erzählen durfte, er duldete nicht einmal ihre Erwähnung. Einmal ging er sogar in die Schule, um nicht nur mit dem Klassenlehrer, sondern auch mit dem Direktor zu sprechen und zu verlangen, dass ich auf keinen Fall mit einem Mädchen auf eine Bank gesetzt würde.
    Er selbst äußerte sich über Frauen als niedere Wesen, die die Bezeichnung Mensch nicht verdienten. Meine zum ersten Mal gestellte Frage, woher die Kinder kämen, beantwortete mir mein Vater sofort ausführlich und wahrheitsgemäß. Zwar drückte er sich sehr vorsichtig aus, doch die Details, in denen er sich allmählich verfing, warfen mich lange aus dem Gleis. Allmählich wurden seine Erklärungen immer offener. Zu guter Letzt begann er mit mir Gespräche zu diesem Thema von Gleich zu Gleich zu führen, das heißt als Zyniker mit einem ebensolchen Zyniker.
    Sein Behüten diente, wie mir jetzt scheinen will, keineswegs dem Zweck, meine Unschuld zu bewahren. Natürlich nicht. Er befürchtete, ich könnte erkennen, dass mein Vater bei weitem nicht in allem recht hatte. Dass mir womöglich sogar Zweifel an seinen Grundsätzen kämen, dass ich feststellte: Die Männlichkeit, zu der er mich erzog, existiert nicht an sich, sie verdankt ihre Existenz der Existenz der Weiblichkeit. Indessen versuchte er, bei meiner Erziehung in allem so verfahren, als wären diese beiden Eigenschaften voneinander zu trennen, als könnte das eine ohne das andere sein.
     
    Eines Tages ging meinem Vater die Fruchtlosigkeit seiner Lehren auf: Es stellte sich heraus, dass das Kostbarste für mich die auf so dumme Weise ums Leben gekommene Lisa aus dem Nebenaufgang war: Er kam unverhofft aus seinem Verlag nach Hause und überraschte uns. Nein, nein, wir saßen bereits einfach nebeneinander am Schreibtisch, in meinem Zimmer, doch ihm war sofort alles klar.
    Er kreuzte von hinten auf, bemerkte, dass sich unsere Köpfe berührten, dass Lisas Hand auf meiner Schulter lag. Er räusperte sich. Wir fuhren hoch.
    »Guten Tag!«, sagte Lisa.
    Er gab keine Antwort, sog nur geräuschvoll Luft durch die Nase ein.
    »Guten Tag!«, wiederholte Lisa.
    »Jaaa …«, sagte mein Vater, drehte sich um und ging, noch aufrechter, noch hagerer wirkend, zur Anrichte im großen Zimmer.
    »Ich habe mich erkältet«, murmelte er vor sich hin, während er eine Schachtel mit Medikamenten herausnahm, »Fieber … Eine Epidemie greift um sich, ein Virus …« Und er rief in die geschnitzte Tür der Anrichte:
    »Genka! Bring mir Wasser!«
     
    Nach der Geschichte mit der Messerstecherei, nach Lisas Tod, nachdem mich sein ehemaliger Kollege gerettet hatte, musste er einsehen, dass
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