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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur
Autoren: Dimitri Stachow
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an und verstummte.
    Boris Vikentjewitsch setzte sich auf die Tischecke, wobei er gegen den Becher mit den Bleistiften stieß. Der Becher fiel um, mein Vater zuckte zusammen, aber Boris Vikentjewitsch bemerkte seine Ungeschicklichkeit nicht: Die Hände vor der Brust verschränkt, sah er meinem Vater aufmerksam ins Gesicht, und offenbar fiel die Betrachtung zu seiner Zufriedenheit aus.
    »Sie müssen sich rasieren, Miller«, sagte er.
    Die Stenotypistin begann wieder zu hüsteln, und Boris Vikentjewitsch wandte seinen Blick mit einem freundlichen Lächeln ihr zu.
    »Sie können gehen, Rogosina. Danke!«
    Mein Vater hörte, wie hinter seinem Rücken der Stuhl gerückt wurde, die Stenotypistin aufstand und nach ihren Papieren griff.
    »Lassen Sie sie liegen!«, sagte Boris Vikentjewitsch über den Kopf meines Vaters hinweg. »Sie sollen sie liegen lassen, sagte ich! Gehen Sie, Rogosina, gehen Sie!«
    Die Tür klappte leise zu. Mein Vater warf einen begehrlichen Blick auf das Glas mit dem abkühlenden Tee auf dem Tisch. Boris Vikentjewitsch folgte der Richtung seines Blickes.
    »Sie kommen noch zu Ihrem Tee«, sagte er und umfasste nachdenklich sein spitzes Kinn mit der großen feingliedrigen Hand. »Die Besucher deines Ateliers, Miller, sterben also wie die Fliegen? Ja?«, sagte er nach einer Pause. »Sie sterben … Erklärungen kann es für diese betrübliche Tatsache nur zwei geben. Die erste Erklärung – ein reiner Zufall. Bei einigen ist einfach die Zeit abgelaufen, und sie haben, natürlich ohne es zu ahnen, beschlossen, sich fotografieren zu lassen. Als bleibende Erinnerung sozusagen. Sie haben sich fotografieren lassen …«
    »Ich unterschreibe. Ich unterschreibe alles!«, sagte mein Vater plötzlich mit hoher, überkippender Stimme.
    »Du unterschreibst, du unterschreibst. Lass dir nur Zeit. Du bist ja noch so jung. Du brauchst dich nicht zu übereilen. Keine Hast! Hör zu, das ist doch so interessant! Die zweite Erklärung – Schädlingstätigkeit. Jemand, mit größter Wahrscheinlichkeit du, Miller, vergiftet die Besucher mit so etwas …«
    »Ja!«, hauchte mein Vater.
    »Schweig, schweig! Du bekommst noch Gelegenheit, alles zu erzählen. Mit so etwas …« Die Hände auf die Tischkante gestützt, beugte sich Boris Vikentjewitsch vor. »Aber die Todesursachen sind bei deinen Besuchern ja ganz verschieden, nicht wahr? Einer bekam einen Schlaganfall, jemand anderes hat sich mit siedendem Wasser verbrüht, und so weiter und so fort, Miller. Sieht gar nicht nach Schädlingstätigkeit aus, wie, Miller?«
    »Nein! Das heißt, ja! Sieht danach aus! Oh! Sieht nicht danach aus …«
    »Sag ich ja, Miller! Eine sonderbare Geschichte, wie?« Boris Vikentjewitsch hockte sich vor den Stuhl hin. »Eine sehr sonderbare … Ich fühle, dass es kein Zufall ist, aber nach Schädlingstätigkeit sieht das nicht aus! Ihr seid zu dritt, aber wer stirbt, der ist von dir oder deinem Vater fotografiert worden. Und zwar wurden diese Leute nicht nur fotografiert, ihr habt die Fotos auch noch retuschiert. Wie verhält sich denn das, hm?«
    »Ich weiß nicht. Ich höre zum ersten Mal davon! Aber ich tue alles, was Sie sagen. Alles! Ich werde unterschreiben … Namen nennen … Angaben machen …«
    »Weißt du, Miller, mir kommt da eine Idee. Ebenso sonderbar wie die Geschichte mit den Besuchern deines Fotoateliers …«
    »Es ist nicht meins!«
    »Ich weiß, ich weiß … Der Verwaltung für kommunales Dienstleistungswesen gehört es. Ich weiß!«
    Boris Vikentjewitsch stand auf, brachte aus der Tasche seiner Stiefelhosen ein festes Papierstück zum Vorschein und ging zum Tisch der Stenotypistin.
    »Wir beide werden jetzt mal prüfen, was an meiner Idee dran ist. Du machst, was ich sage, dann wirst du weggebracht. Bald wird sich herausstellen, ob meine Idee richtig ist oder nicht. Falls nicht, wird deine Situation nicht beneidenswert sein. Wenn ja, ist die Sache zu überlegen …«
    Mein Vater hörte, wie Boris Vikentjewitsch mit den Fingerknöcheln auf den Tisch der Stenotypistin klopfte.
    »Aber wie dem auch sei, Miller, beneidenswert wird deine Situation in keinem Fall sein! Komm her!«
    Mein Vater wandte sich um: Boris Vikentjewitsch stand am Tisch.
    »Was habe ich gesagt?!«
    Mein Vater erhob sich und trat zum Tisch der Stenotypistin.
    »Setz dich!«
    Mein Vater setzte sich auf den noch warmen Stuhl.
    »Hier! Nimm!«
    Mein Vater blickte auf. Boris Vikentjewitsch reichte ihm mit der einen Hand eine geschärfte Lanzette, mit der
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