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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur
Autoren: Dimitri Stachow
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ein Mann mit hochgeschlagenem Mantelkragen und Schirmmütze das Atelier. Ein absoluter Durchschnittsmensch. Mit knarrenden neuen Stiefeln trat er an Zippora Abramownas Tischchen heran und erkundigte sich, ob er den Leiter sprechen könne.
    Zippora Abramowna ahnte nichts Böses. An diesem Tag war mein Vater Leiter und einziger Fotograf im Atelier: Der Chef befand sich schon seit ein paar Wochen mit einem heftigen Hexenschuss zu Hause, der zweite Fotograf, Rudolf Miller, mein Großvater, schwebte, mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus, zwischen Leben und Tod.
    Es hatte sich so gefügt, dass an diesem Tag sein Sohn, der vor kurzem noch Lehrling gewesen war, beide schwere Bürden tragen musste. Zippora Abramowna drückte den Klingelknopf, und mein Vater kam zu dem Besucher heraus.
    »Wollen wir uns fotografieren lassen?«, fragte mein Vater.
    »Nein, nicht jetzt gleich …«
    »Gut.« Mein Vater seufzte. »Ich hole bloß die Kamera …«
    Solche Leute waren schon ein paarmal hier erschienen, sie wollten den Leiter sprechen, woraufhin einer der im Atelier arbeitenden Fotografen losfuhr, um Aufnahmen von Bestarbeiten, Beststudentinnen, Sportlern, von Konferenzen, festlichen Versammlungen, von Inbetriebnahmen und Vorzeigeleistungen zu machen. Solche Aufträge außerhalb des Ateliers war mein Vater gewohnt.
    Als er mit dem Stativ und einem die Kamera enthaltenden großen Holzkasten wieder erschien, saß der Besucher mit übergeschlagenen Beinen Zippora Abramowna gegenüber, rauchte und betrachtete die Fotos an den Wänden.
    »Hervorragende Qualität!«, sagte er. »Ihre Aufnahmen?«
    »Ja«, bestätigte mein Vater stolz. »Unser Atelier ist eines der besten.«
    Der Besucher stand auf und stülpte sich die Mütze auf den Kopf. Wäre mein Vater nicht von klischeehaftem Denken beherrscht gewesen, hätte er bemerkt, dass Zippora Abramowna vor Schrecken wie gelähmt dasaß und das dicke Heft, in das sie die Kunden eintrug, seltsamerweise aus der Manteltasche des Besuchers herausguckte.
    »Fahren wir?«, fragte mein Vater.
    »Jajaja!« Der Besucher nickte Zippora Abramowna zu, ließ meinen Vater vorangehen, und die Tür des Ateliers fiel hinter ihnen ins Schloss.
    Erst als das Glöckchen über der Tür verstummt war, erhob sich Zippora Abramowna langsam von ihrem Stuhl, zog die Tischschublade auf, nahm das Schild mit der Aufschrift »Geschlossen« heraus und hängte es an die Tür. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht.
     
    Das alles sah mein Vater nicht. Aus dem Atelier auf die Straße getreten, setzten er und der Besucher sich sofort in ein mit laufendem Motor wartendes Auto, die Tür klappte zu, der Fahrer brauste davon. Meinem Vater fielen die mit dunklem Papier zugeklebten Scheiben auf und dass ihn und den Besucher, der neben ihm Platz genommen hatte, eine lichtundurchlässige Trennwand vom Fahrer abschirmte.
    »Wohin fahren wir?«, fragte mein immer noch nichts argwöhnender Vater.
    »Nicht weit«, antwortete der Besucher und hieb meinem Vater mit einem kurzen Schlag aus breiten Schultern die Faust ins Gesicht, dass er augenblicklich das Bewusstsein verlor und erst in der Zelle wieder zu sich kam.
    In dem Büro, in das er am folgenden Morgen gebracht wurde, saß der falsche Besucher, jetzt in Uniform, an einem Tisch und schrieb, den Federhalter häufig ins Tintenfass tauchend, dazu an einem Tischchen gleich neben der Tür eine Stenotypistin. Der Wächter, der meinen Vater hereingeführt hatte, wies auf den Stuhl gegenüber dem Tisch und ging hinaus.
    Mein Vater hob den Blick und versuchte ihn eine Weile auf den Scheitel des über den Tisch gebeugten Mannes zu heften. Nachdem er das aufgegeben hatte, senkte er den Kopf, um seine schnürsenkellosen Schuhe zu betrachten. Die große Uhr an der Wand tickte. Von Zeit zu Zeit hüstelte hinter seinem Rücken die Stenotypistin. Endlich riss sich der an dem Tisch Sitzende von seinen Papieren los, sah meinen Vater an und lächelte breit und freundlich.
    »Wie haben Sie geschlafen, Genrich Rudolfowitsch?«, erkundigte er sich.
    »Danke, gut«, flüsterte mein Vater.
    »Wie, wie?«
    »Danke«, sagte mein Vater schon lauter. »Ich habe gut geschlafen.«
    »Na, prima!« Der falsche Besucher stand auf, zog seinen Schulterriemen zurecht, umrundete den Tisch und baute sich vor meinem Vater auf. »Ich heiße … Wir haben uns ja noch nicht bekannt gemacht, nicht wahr? Ja … Ja, haben wir nicht. Entschuldigen Sie! Ich heiße Boris Vikentjewitsch.«
    »Genrich …«, setzte mein Vater
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