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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur
Autoren: Dimitri Stachow
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Gläser – mein Vater hielt offenbar mit – ließen ihn wieder die Vorsicht vergessen. Er lebte in seiner Vergangenheit und war nicht zu bremsen.
    Ich stand auf, zog statt der Trainings- frisch gebügelte Hosen und ein anderes Hemd an. Hinter der Tür wurde leiser gesprochen: Mein Vater setzte seinen ehemaligen Kollegen über die Angelegenheit ins Bild. Der Besucher brummte etwas, bis er leicht die Stimme hob:
    »Jetzt haben wir andere Zeiten, jetzt ist es für uns schwerer geworden …«
    Ich schaltete das Oberlicht ein und ging näher an die Tür heran.
    »Ja, früher …«, versuchte der Besucher fortzufahren, doch mein Vater fiel ihm ins Wort.
    »Hör zu!«, stieß er hervor. »Ich muss meinem Sohn helfen! Er hat niemanden außer mir. Seinen Freunden wird der Rücken gedeckt. Man wird alles auf ihn abschieben. Statt dir allen möglichen Mist in Erinnerung zu rufen, solltest du mir lieber zuhören und helfen!«
    Ich hockte mich hin und spähte durchs Schlüsselloch. Beide saßen an einer Tischseite, einander leicht zugewandt, mein Vater hielt seinen ehemaligen Kollegen – einen Dutzendmenschen, dessen Kopf direkt auf den Schultern zu sitzen schien und dessen ungewöhnlich rote Lippen wie geschminkt wirkten – am Schlips.
    Mit Mühe löste mein Vater seine Finger von dem Schlips, der sie nicht freigeben wollte. Ein paar Kunstseidefäden blieben an seinen Niednägeln hängen, die mein Vater in der eintretenden Pause nacheinander abbiss und zur Seite spuckte, während der Kollege mit der Gabel nach Salzpilzen angelte. Sie rutschten weg, nur einen einzigen Zwiebelring konnte er aufspießen.
    »Dann rede also!«, forderte der ehemalige Kollege meinen Vater auf, wobei er nachdenklich den Tisch betrachtete und die Hand nach dem Teller mit den bulgarischen Gewürzgurken ausstreckte. »Red schon!«
    »Na endlich!« Mein Vater goss erst sich ein und dann dem Gast. »Sie haben einen Ausflug gemacht, mit dem Auto des Papas eines seiner Freunde. Mit Mädchen …«
    »Schöner Auftakt.« Der ehemalige Kollege meines Vaters nickte und biss genussvoll in eine Gurke. »Zu unseren Zeiten hat es so etwas … Entschuldige, ich höre zu!«
    »… Mein Genka und zwei andere, ebensolche Dussel. Sie fuhren zu einem Fluss, bei Swenigorod. Das Radio im Auto blieb an. Und als sie zurückfahren wollten, war die Batterie leer. Der Motor ließ sich nicht starten. Es wurde dunkel …«
    Der ehemalige Kollege meines Vaters hob sein Glas. Mein Vater das seine. Sie tranken, und der ehemalige Kollege aß seine Gurke auf.
    »Ja, und?« Der Gast nahm sich einen Löffel Salat, überlegte kurz und packte neben den Salat ein dickes Kotelett: Obwohl er Besuch erwartete, hatte mein Vater nicht selbst gekocht, sondern alles Nötige in einem Feinkostladen besorgt.
    »Irgendwelche Kerle von dort rückten ihnen auf die Pelle. Ein Wort gab das andere, und sie kriegten sich in die Wolle.«
    »Und?« Der ehemalige Kollege langte nach der Sülze.
    »Und, und?«, äffte ihn mein Vater nach. »Zwei Tote: ein Mädchen von ihnen und einer von denen. Welche griffen zu den Messern, verstehst du?«
    »Verstehe!« Der ehemalige Kollege machte sich mit Appetit über sein Essen her. »Und wieso das Mädchen?«
    »Sie soll es zufällig erwischt haben. Ist ins Messer gelaufen, als sie die Kampfhähne zu trennen versuchte. Mit dem Finger gezeigt aber wird auf meinen, er hätte mit dem Messer herumgefuchtelt!«
    »Hat er denn?« Der ehemalige Kollege warf meinem Vater einen finsteren Blick zu. »Hat er?«
    »Nein! Du kannst ihn ja selber fragen. Genrich! Gena! Komm mal her!«
    Ich prallte von der Tür zurück, verlor das Gleichgewicht und setzte mich hin.
    »Gena!«, wiederholte mein Vater. »Mit wem rede ich?!«
    Ich stand auf und fasste nach dem Türgriff. Hinter der Tür war das Wegrücken eines Stuhls zu hören. Ich öffnete die Tür, kam aus meinem Zimmer heraus, stellte mich neben den Tisch.
    Der ehemalige Kollege aß seine Sülze und sah mich an. Der allergewöhnlichste Blick eines allergewöhnlichsten Menschen.
    Was mochte er wohl von mir denken, der ich da vor ihm stand, blass, mit länglichem Gesicht, Veilchen unter den Augen, und nicht wusste, wohin mit den Händen? Auf jeden Fall drückte das Gesicht des ehemaligen Kollegen meines Vaters – breitflächig, glatt, ohne jede Falte – nichts aus.
    »Hast du ein Messer bei dir gehabt?«, fragte er, nachdem er mich von Kopf bis Fuß gemustert hatte.
    »Nein …«, sagte ich.
    »Deine Freunde?«
    »Nein
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