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Der Regen in deinem Zimmer - Roman

Der Regen in deinem Zimmer - Roman

Titel: Der Regen in deinem Zimmer - Roman
Autoren: Aufbau
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sind zwei Blätter drin. Ich ziehe erst eines heraus, dann ist die Überraschung doppelt.
    Ich betrachte die erste Zeichnung und blicke auf, um meine Erregung zu fassen. Draußen bewegt sich der Wipfel der Buche im Wind, der Himmel ist tiefblau, die Luft riecht nach Sommer. Die Zeichnung ist ein Porträt meiner Mutter, heiter lächelt sie mich an. Ich betrachte sie lange, ehe ich tief durchatme. Dann stehe ich auf, gehe in ihr Zimmer, öffne die Fenster und lasse die Luft herein, setze mich aufs Bett und betrachte die Zeichnung erneut. Sie ist wunderschön. Ihr Blick ist so lebendig und intensiv, als sähe sie mich tatsächlich an. Für einen kurzen Augenblick bist du wieder hier bei mir, in diesem aus der Zeit gefallenen Moment. Ich spüre, wie du zugleich abwesend und gegenwärtig bist, während ich für eine kleine Ewigkeitreglos dasitze und mich dieser Empfindung, diesem stillen, schmerzlichen Glück hingebe.
    Das einzige Foto meiner Mutter, das du hast sehen können, ist das auf dem Grabstein, doch du hast es nicht einfach abgemalt. Du hast es nachempfunden, für mich. Wieso? Ist das dein Geschenk?
    Ich gehe wieder auf die Terrasse und ziehe die andere Zeichnung heraus. Darauf bist du in einem Zimmer, womöglich in dem, wo du jetzt lebst. Du sitzt auf dem Bett und siehst aus dem offenen Fenster. Ein bisschen so wie ich jetzt. Es ist schön, dass du mich nicht vergisst.
    Gerade will ich die Zeichnungen wieder in den Umschlag stecken, da sehe ich, dass hinten auf der zweiten etwas draufsteht: eine Adresse mit Telefonnummer.
    Mein Herz fängt heftig an zu schlagen: War es das, was ich wollte? Ich habe versucht, nicht an dich zu denken, weil ich mich nicht nach dir sehnen wollte. Ich gehe nach nebenan, krame mein Handy aus der Badetasche, kehre zurück und bereite mich vor: Ich setze mich und überlege, was ich dir sagen will, auch wenn ich sowieso alles durcheinanderbringen werde, sobald ich deine Stimme höre. Ich wähle die Nummer. Es klingelt einmal, zweimal, dreimal. Dann deine Stimme.
    »Ciao«, sagt Gabriele am anderen Ende der Leitung.
    »Ciao«, sage ich und lächele.
    Schweigen.
    »Die Zeichnung meiner Mutter ist schön«, sage ich bewegt.
    Am anderen Ende herrscht Schweigen.
    »Hallo?«
    »Ja, ich bin da. Deine Mutter war schön.«
    »Ja«, sage ich nur und warte.
    Wieder endloses Schweigen.
    »Die Schule ist also vorbei«, sagt er, und ich merke, dass er auch aufgeregt ist.
    »Ja, endlich. Ich hatte die Nase gestrichen voll.« Ich lächle nervös.
    »Arbeitest du?«, frage ich.
    »Nicht mehr. Zur Zeit machen wir Pause.«
    Schweigen. Nur Schweigen.
    »Ich denke oft an dich«, sagt er, als wäre das ein Problem, das er nicht in den Griff bekommst.
    »Ich auch«, sage ich und lächle glücklich, weil er wieder da ist.

7. August
    Morgen kommt Gabriele zurück und dann, wer weiß. Ich weiß nicht einmal, wie lange er bleibt. Wir werden sehen. Ich habe Angela gesagt, dass ich nicht mit nach Griechenland fahre. Ich will abwarten, was passiert. In Wirklichkeit will ich mit ihm hinfahren.
    Gestern bin ich am Meer gewesen. Der Himmel sah nach Unwetter aus, und es ging ein heftiger Wind.
    Ich musste an dich denken, an einen Tag wie vor tausend Jahren.
    Jener Tag am Meer kommt mir vor, als wäre er gestern gewesen. Ich war noch sehr klein, höchstens vier oder fünf. Das Wetter war wechselhaft, nachts hatte es geregnet, aber wir fuhren trotzdem, zusammen mit der Nachbarin und ihren Kindern. Das Meer war aufgewühlt, ich kann mich noch genau daran erinnern, und auch an den Wind im Gesicht und den herben Geruch in der Luft.
    Ich sehe noch vor mir, wie du im Liegestuhl sitzt und ich schmollend im Sand spiele, weil ich nicht wie die anderen Kinder ans Wasser gehen durfte.
    Der leere Strand kam mir so riesig vor. Eine schräge, sandige Fläche, Himmel und Wasser, Unendlichkeit.
    Irgendwann fing ich an zu weinen: vielleicht hatte ich mir wehgetan oder Sand in die Augen gekriegt?
    Du nahmst mich auf den Arm, und wir gingen am Wasser entlang, ich an dich geklammert wie an einen Baum, Herz an Herz. Ab und zu sagtest du etwas zu mir oder gabst mir einen Kuss auf die Wange.
    Hin und wieder spürte ich die Sonne auf der Haut, die sich aus den zerzausten Wolken befreite. Dazu den Wind und deine Worte. Was hast du zu mir gesagt? Was hast du mir erzählt? Wenn ich mich nur an alles erinnern könnte.
    In jener Zeit waren wir unsterblich. Das Leben erschien uns so lang.
    Ich spürte die Sonne und den Wind und deine Worte auf der
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