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Der Regen in deinem Zimmer - Roman

Der Regen in deinem Zimmer - Roman

Titel: Der Regen in deinem Zimmer - Roman
Autoren: Aufbau
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sie lachen. Ich habe nachgeschaut, was sie plötzlich so amüsierte, doch da standen nur ein paar ausrangierte Farbtöpfe und zwei Rollen Tapete. »Was ist?«, habe ich lächelnd gefragt. »Nichts, nicht der Rede wert.« Doch dann fing sie an zu erzählen. Als ich noch ganz klein war, hatte sich meine Mutter in den Kopf gesetzt, mein Zimmer selbst zu tapezieren. Sie hatte alles Nötige besorgt und dazu ein Handbuch, wo genau drinstand, wie es ging. Als meine Großmutter zwei Tage später das Zimmer betrat, hingen die Tapetenbahnen wie lange Hundezungen von den Wänden. Während sie und meine Mutter die Katastrophe betrachteten, war die Putzfrau hereingekommen, neugierig, was es mit den ratlosen, enttäuschten Ausrufen auf sich hatte, und stieß dabeigegen den Tapetentisch, der mitsamt der noch offenen Leimtöpfe umfiel. Entnervt und mit den Kräften am Ende, war meine Mutter wie eine Furie durchs Zimmer getobt und hatte jede einzelne Tapetenbahn wieder heruntergerissen, und meine Großeltern hatten belustigt zugesehen. Nonna lachte Tränen. »Entschuldige, Ale, entschuldige … Das ist schon seltsam.« Sie wischte sich die Augen, doch man sah, dass sie guter Dinge war und die Erinnerung ihr nicht wehgetan hatte, im Gegenteil.
    Doch das ist noch nicht alles. Letzte Woche hat es die ganze Zeit geregnet. Rosa hatte das Fenster in Mamas Zimmer geöffnet und dann vergessen, es wieder zu schließen. Am späten Nachmittag hörte ich das Fenster klappern und bin rübergegangen. Die Gardine wehte sanft im Luftzug, und ein leichter Regen fiel herein und glitzerte im goldenen Licht, das durch das offene Fenster drang. Ich wollte hingehen und es zumachen, doch dann blieb ich stehen. Die Luft war frisch und trug den herben Geruch des Meeres mit sich. Ein paar Minuten lang stand ich da, lauschte dem leisen Rascheln der wehenden Gardine und spürte, wie die hereinströmende Luft jeden Gegenstand umspielte, als hätte alles wieder zu atmen begonnen.
    Das Merkwürdigste aber geschah zwei Tage später. Es war Freitag, ich kam gerade aus der Schule. Als ich die Tür aufmachte, kam Nonna mir aus der Küche entgegen und drückte mir den Magritte-Schirm in die Hand. »Den hat jemand zurückgebracht.« Sie machte dabei ein seltsam verschwörerisches Gesicht, als hätte sie mir ein Geheimnis verraten. Der Schirm mit den Magritte-Wolken war das Werbegeschenk einer Buchhandlung gewesen, das man für den Kauf einerbestimmten Anzahl von Büchern bekommen hatte, und da er uns allen gleichermaßen gefiel, hatten wir uns ständig darum gerissen. Meine Mutter gab ihn mir nicht – Den verlierst du sowieso nur –, meine Großmutter nahm ihn meiner Mutter weg – Wozu brauchst du einen Schirm, du hast ja die Kapuze –, und ich versteckte ihn und hoffte, sie würden ihn vergessen – Wolken sind schließlich nichts für alte Leute. Eines Tages war der Schirm tatsächlich verschwunden, und jede beschuldigte die andere, nicht drauf aufgepasst zu haben. Bis letzte Woche, als plötzlich eine junge Frau vor unserer Tür stand und ihn zurückbrachte. Meine Mutter habe ihr geholfen, eine Wohnung zu finden, und weil sie so nett gewesen sei, habe sie sie nach dem Wohnungskauf gebeten, auf einen Kaffee in ihrem Garten vorbeizukommen. An dem Tag hatte Mama den Schirm bei der jungen Frau vergessen, der dann irgendwie in einem Karton auf ihrem Dachboden gelandet war. Vor einem Monat hatte die junge Frau ihn wiedergefunden, und als ihr wieder einfiel, wem er gehörte, war sie schnurstracks zur Agentur gegangen, wo sie von unserem Unglück erfahren hatte. Tagelang hatte sie überlegt und dann beschlossen, ihn zurückzubringen. Den ganzen Winter über hatte keine von uns mehr an den Schirm gedacht, selbst ich nicht. Ich habe lange nachgegrübelt und weiß nicht, was ich davon halten soll.
    Vielleicht kommt der Moment, in dem alles Risse bekommt und langsam aufbricht: meine Großmutter, die lachend in der Garage steht; der Regen in deinem Zimmer; ein verloren geglaubter Gegenstand, der plötzlich wieder auftaucht.
    Und selbst du wirst am Ende zu etwas anderem, doch irgendwie Richtigerem: Nicht mehr der zehrende, schmerzlicheGedanke, sondern das Unverhoffte, das uns überrascht und befreit.
    Den Schirm haben wir nicht in dein Zimmer gestellt, er prangt gut sichtbar in der Diele neben der Wohnungstür. Da steht er und strahlt etwas aus, das wir nicht mehr zu sehen vermochten.

28. April
    Ich fürchtete schon, du würdest mir nicht mehr schreiben (oder eher zeichnen).
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