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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Autoren: Amitav Ghosh
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Kokospalmen und Meertraubenbäumen wuchs hier nicht viel, und er fand nichts.
    Dennoch gelangte er mehr und mehr zu der Überzeugung, dass irgendetwas von Paulette hier verborgen war und doch offen zutage lag. Was konnte es sein, und wo war es? So hartnäckig nagte der Gedanke an ihm, dass er in der Nacht schlecht schlief. Schließlich schob er das Kissen von der charpoy, und da bemerkte er eine Ausbuchtung in der Matratze. Er entzündete eine Laterne, zog die Matratze weg, und zum Vorschein kam ein in Persenning gewickeltes Päckchen. Er knotete die Lederschnur auf und entfernte behutsam die Umhüllung.
    Drinnen lag ein Bündel Papiere. Das erste Blatt war vergilbt und mit einer großen, auffallend stark geneigten und etwas verblassten Schrift bedeckt.
    Nil rückte die Lampe näher heran und begann zu lesen.
    8 Rua Ignacio Baptista, Macao, 6. Juli 1839
    Geliebte Paggli-shona,
    Du kannst Dir nicht vorstellen, wie glücklich mich Dein letzter Brief gemacht hat. Er hat mir die einzige Freude seit Langem beschert. Es war so aufregend zu erfahren, dass Zachary vollständig rehabilitiert und auf dem Weg nach China ist!
    Ich freue mich unendlich für Dich, liebe Paggli, und warte gespannt auf noch bessere, noch freudigere Nachrichten – Nachrichten, die es mir erlauben werden, dich »Pagglibai« zu nennen – , ich sehne mich geradezu danach und hoffe, sie schon bald zu erhalten, denn vielleicht sind sie das Einzige, was die dunkle Wolke zu vertreiben vermag, die seit einigen Wochen über mir hängt.
    Macao liegt mir überhaupt nicht, finde ich – oder vielleicht wohne ich nur nicht gern im Haus meines Onkels. Doch nein, es wäre nicht recht von mir, die Schuld an meinen Migräneanfällen auf Macao, meinen »Onkel« oder sein Haus zu schieben. In Wirklichkeit vermisse ich Kanton ganz schrecklich: den Maidan, die Faktoreien, die Hog Lane, die Old China Street, Lamquas Atelier – am meisten aber Jacqua. Mein einziger Trost ist, dass er auch an mich denkt. Das weiß ich, weil er mir vor einigen Wochen ein Geschenk geschickt hat: Jujuben und kandierte Früchte, wie immer, aber in einer höchst eigenartigen Verpackung, einem Seidenstoff nämlich, der sich bei näherem Hinsehen als abgeschnittener Ärmel eines seiner Gewänder entpuppte! Ein Brief lag natürlich nicht bei; da wir keine gemeinsame geschriebene Sprache haben, hatte ich auch keinen erwartet. Das Stück Seide aber gab mir Rätsel auf: War es lediglich ein Andenken, fragte ich mich, oder übermittelte es irgendeine verschlüsselte Botschaft? Je länger ich darüber nachdachte, desto sicherer wurde ich mir, dass Letzteres der Fall war, und am Ende beschloss ich, mich an einige der chinesischen Gehilfen meines Onkels zu wenden. Ihre Reaktion bestätigte meine Vermutung sogleich. Sie kicherten und lachten und erröteten und wollten mir nicht sagen, wie die Botschaft lautete, sodass ich sie mit allem Möglichen bestechen und alle Überredungskunst aufbieten musste, um sie ihnen zu entlocken: Offenbar war vor langer Zeit ein chinesischer Kaiser seinem Freund so zugetan, dass er einmal, als der Freund mit dem Kopf auf seinem Arm eingeschlafen war, lieber den Ärmel seines unschätzbar wertvollen Gewandes abschnitt, als die Ruhe des Freundes zu stören!
    Ist das nicht eine höchst anrührende Geschichte? Eigentlich hätte sie mich aufmuntern müssen, aber sie machte alles nur noch schlimmer, muss ich gestehen. Hatte ich Kanton zuvor vermisst, so verzehrte ich mich jetzt förmlich nach der Stadt und gab zugleich die Hoffnung auf, sie je wiederzusehen.
    Ohnehin schon in den Fängen des Trübsinns, suchen mich jetzt auch noch Albträume heim. Sie begannen in der Nacht dieses fürchterlichen Sturms, der vor zwei Wochen an der Küste tobte – Du erinnerst Dich sicher daran, denn er muss die Redruth ordentlich gebeutelt haben (aber Dich konnte natürlich Zachary beruhigen, während ich ganz allein war … ).
    In jener langen, grauenvollen Nacht jedenfalls schloss ich, als der Wind irgendwann abflaute, die Augen und kehrte in Gedanken nach Kanton zurück – doch nur, um es von einem neuerlichen Aufruhr erschüttert zu finden, ähnlich dem im Dezember, aber noch schlimmer.
    Etwas Schreckliches war in der Stadt geschehen, und eine große Menschenmenge war nach Fanqui-Town geströmt. Diesmal waren keine Soldaten da, die sie hätten in Schach halten können, und die Massen waren auf Zerstörung aus. Männer liefen mit lodernden Fackeln über den Maidan, brachen in die Faktoreien
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