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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Autoren: Amitav Ghosh
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Pflanzen gepachtet hatte.
    Das Gelände lag so hoch, dass es einen schönen Blick über die Meerenge bot, und als Paulette oben angelangt war, setzte sie sich für eine Weile unter einen Baum, um Atem zu schöpfen und die Schiffe in der Bucht zu zählen.
    In den vergangenen Wochen hatte auf der Wasserstraße zwischen Hongkong und Kowloon mehr Verkehr geherrscht als je zuvor. Viele Schiffe britischer Eigner waren von Macao hierhergekommen, und auch die meisten Briten hatten Macao verlassen und wohnten jetzt hier auf den vor Anker liegenden Schiffen. So war im Schatten von Hongkongs Bergrücken und Gipfeln eine schwimmende Siedlung entstanden, deren Herzstück die Flotte der ausländischen Schiffe bildete. Um sie herum hatten sich zahlreiche Boote eingefunden, deren Besitzer alle möglichen Dienste anboten, vom Wäschewaschen bis hin zur Lieferung von Lebensmitteln; Dutzende dieser kleinen Boote waren ständig auf der Jagd nach Kundschaft und verkauften Obst, Gemüse, Fleisch, lebende Hühner und vieles andere mehr.
    Aus dieser bunten Ansammlung von Schiffen stach die Anahita mit ihren eleganten Linien und den kühn aufragenden Masten von Anfang an hervor. Paulette und Fitcher waren auf dem Weg zum östlichen Ende der Insel, wo sie häufig nach Pflanzen suchten, viele Male an ihr vorbeigekommen. Oft winkte ihnen dann der Laskar im Ausguck zu.
    Heute zeigte das Heck der Anahita zufällig in Paulettes Richtung, und so fiel ihr die Strickleiter auf. Es war ein seltsamer Anblick: eine Leiter, die aus dem Fenster eines vor Anker liegenden Schiffes hing und darunter nichts als Wasser. Paulette wunderte sich ein wenig, zuckte dann aber die Schultern und wandte sich wieder ihren Pflanzen zu.
    Es war ein feuchtheißer Tag, und nach einer Stunde musste sie von Neuem rasten. Sie schaute wieder zur Anahita hinab und sah, dass auf dem eleganten Dreimaster ein Aufruhr ausgebrochen war. Die Strickleiter war hochgezogen worden, und die Besatzung schwärmte über das Hauptdeck, heißte Signale und schickte von Sprachrohren verstärkte Rufe über das Wasser.
    Später, als es für Paulette Zeit wurde, zum Beiboot der Redruth zurückzukehren, sah sie, dass eine Jolle von der Anahita zu Wasser gelassen worden war und nun auf Hongkong zuhielt. Ein Dutzend Männer mit Turbanen, die meisten von ihnen Laskaren, legten sich mit aller Kraft in die Riemen.
    Der Pfad zum Wasser hinab beschrieb scharfe Biegungen, und Paulette verlor die Jolle für eine Weile aus den Augen. Als sie wieder in ihrem Blickfeld auftauchte, hatte sie das Land bereits erreicht, die Insassen waren herausgesprungen und liefen über den Strand auf etwas zu, was ein Felsüberhang Paulettes Blicken entzog.
    Kurz darauf hallten Schreie den Hang herauf, schrille Stimmen, die auf Hindustani verzweifelt riefen: »Hierher! Hierher! Wir haben ihn gefunden … «
    Paulette beschleunigte ihre Schritte, und bald sah sie die Männer wieder. Sie knieten um einen halb nackten Leichnam herum, der am Strand angespült worden war. Einige weinten und schlugen sich mit den Handballen gegen die Stirn.
    Einer von ihnen, ein bärtiger Mann mit Turban, schaute auf und entdeckte Paulette. Sein Gesicht war ihr fremd, aber seine sich weitenden Augen sagten ihr, dass er sie kannte. Er stand auf und kam auf sie zu.
    »Miss Lambert?«, sagte er leise.
    Sie erkannte die Stimme sofort. »Apni?«, sagte sie auf Bengali. »Sind Sie’s? Von der Ibis ?«
    »Ja, ich bin’s.«
    Sein Gesicht war tränenüberströmt. »Was ist hier los?«, fragte sie. »Wer ist das?«
    »Erinnern Sie sich an Ah Fatt von der Ibis ?«
    Sie nickte. »Ja, natürlich.«
    »Es ist sein Vater, Seth Bahram Modi.«
    Den Legenden der Famie zufolge gelangte Nil rein zufällig in den Besitz von Robin Chinnerys Briefen.
    Gegen Ende seines Besuchs auf der Colver-Farm, so erzählt man sich, bat Nil darum, einige Tage in der Hütte am Meer verbringen zu dürfen, in der Paulette einmal gewohnt hatte. Es war eine Hütte mit Blechdach, die versteckt in einem Kokoshain lag. Bis auf eine charpoy, einen wackligen Tisch und ein paar Stühle war sie leer. Paulettes Aufenthalt hatte keinerlei Spuren hinterlassen, und doch: So wie man manchmal den Blick eines anderen im Rücken spürt, so fühlte Nil, dass irgendetwas von ihr anwesend war. Er kroch auf allen vieren über den Fliesenboden, er inspizierte die Wände, er durchstöberte die sandige Umgebung in der Hoffnung, einen Strauch oder eine Blume zu finden, die sie gepflanzt haben konnte. Doch außer
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