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Der Priester

Der Priester

Titel: Der Priester
Autoren: Gerard O'Donovan
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Gliedmaßen des Mädchens fest. Mulcahy trat zurück und staunte über die Unbarmherzigkeit des Gefühlsausbruchs.
    In diesem Moment betrat ein kleiner, elegant gekleideter Mann das Zimmer. Der Enddreißiger mit pechschwarzen, nach hinten gegelten Haaren warf einen Blick auf das misshandelte Mädchen, dann einen auf das Gedränge, das um sie herum herrschte, und begann dann, sowohl Brogan als auch die Krankenschwester zu beschimpfen.
    Mulcahy, der in Spanien gelegentlich Kontakt zu einheimischen Diplomaten gehabt hatte, erkannte den Typus sofort. Detective Sergeant Cassidy wusste jedoch nicht, woran er war. Er blockierte ihm breitbeinig mit leicht erhobenen Händen den Weg und forderte ihn auf, das Zimmer zu verlassen. Als der Spanier daraufhin noch wütender wurde und sich an ihm vorbeidrängen wollte, kam es zu einem kurzen Handgemenge. Der Mann stöhnte vor Schmerz, als er mit nach hinten gedrehtem Arm zu Boden gedrückt wurde, das Knie des Detective im Kreuz. Der schmerzverzerrte Leidensblick in seinem Gesicht bildete einen starken Kontrast zu Cassidys vor Stolz glühender Miene.
    Brogans Gesichtszüge waren vor Schreck wie gelähmt.
    »Herrje, Andy! Lass ihn los, um Himmels willen. Er ist von der Botschaft.«
    Aber inzwischen war sogar Jesica durch den Tumult neben ihrem Bett verstummt. Sie sah verständnislos zu, wie Brogan und Cassidy dem Mann auf die Beine halfen und den Staub von seinem Anzug klopften. Währenddessen drängte die vor Entrüstung rot angelaufene Schwester die drei Polizisten zur Tür und forderte sie auf, sich einen anderen Ort zu suchen, an dem sie sich weiter so aufführen könnten.
    Mulcahy löste den ungläubigen Blick von den dreien und stellte fest, dass Jesica ihn ansah. Er schüttelte den Kopf und warf ihr ein möglichst beruhigendes Lächeln zu. Sie schien den Krach aber schon wieder vergessen zu haben, denn sie sah ihn einfach unverwandt mit flehendem Blick an, während sie mit einer Hand eine rote Strieme an ihrem Hals abtastete.
    Sie wimmerte, dass ihr Kreuz und ihre Kette fehlten.
    »Quizás las enfermeras lo tienen« , wandte Mulcahy ein. Vielleicht hätten die Krankenschwestern ja die Kette. Als er sich Jesicas Hals jedoch noch einmal ansah, hielt er es für wahrscheinlicher, dass sie bei dem Überfall abgerissen worden war. Das Mädchen hörte ihm sowieso nicht richtig zu, sondern starrte ihn nur an, während ihr etwas durch den Kopf ging.
    »Recuerdo una cosa« , sagte sie mit dünner Stimme, die sie nur mühsam kontrollieren konnte. Ihr wäre etwas eingefallen.
    »Hizo la señal de la cruz« , sagte sie so leise, dass er es kaum hören konnte, weil sich die drei anderen auch wieder lauter unterhielten, seit sie vor der Zimmertür standen.
    »La señal de la cruz?« , wiederholte er, um sich zu vergewissern, dass er sie richtig verstanden hatte.
    »Sí, claro« , sagte sie und unterdrückte ihre Tränen. »Como un cura.«
    Doch bevor sie noch etwas sagen konnte, war die Schwester wieder im Zimmer, ergriff seinen Ellbogen und schob ihn hinaus. Beim Gehen sah er Jesica noch einmal an. Er wollte sich verabschieden, aber sie hatte ihn schon vergessen, und ein weiterer Weinkrampf ließ keinen Zweifel, dass sie den Horror ein weiteres Mal durchlebte.
    »Wie ein Priester!«, rief Brogan aus. Sie standen vor dem Haupteingang. Mulcahy zog an seiner Zigarette, erleichtert, wieder im Freien zu sein.
    »Das hat sie gesagt«, erläuterte Mulcahy. »Der exakte Wortlaut war: ›Er hat sich bekreuzigt. Wie ein Priester.‹«
    Eine gute halbe Stunde war vergangen, seit er Jesicas Zimmer verlassen hatte. Am anderen Ende des Krankenhausflurs hatte er Brogan entdeckt, die immer noch vergeblich versuchte, den aufgebrachten spanischen Diplomaten zu beruhigen. Mulcahy stellte sich dem Mann vor und fragte Brogan, ob sie etwas dagegen hätte, wenn er sich kurz auf Spanisch mit ihm unterhielte. Vielleicht war er nur überrascht, in seiner Muttersprache angesprochen zu werden, vielleicht lag es auch an der Gelassenheit in Mulcahys Gesicht, zu dem der Diplomat aufblicken musste, jedenfalls beruhigte sich der Erste Sekretär schnell. Ein paar Minuten später lächelte er schon, als Mulcahy auf einen legendären spanischen Witz über ein tölpelhaftes Mitglied der Guardia Civil anspielte, während er sich für Cassidys Überreaktion entschuldigte. Bevor er wieder ins Krankenzimmer zurückkehrte, schüttelte Ibañez Mulcahy die Hand und schien sogar die Schmerzen in seinem rechten Arm vergessen zu haben,
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