Der Preis des Schweigens
wappnete mich in einem Pub mit zwei großen Gläsern Rotwein und einem Irish Coffee gegen die kühle Atlantikbrise und kaufte mir spontan ein neues Oberteil und ein paar bunte Holzperlenarmbänder in einer kleinen Surferboutique am Hafen.
Bei alldem war mein Kopf seltsam leer und weit. Alles schien zu plätschern und zu wogen: die Brandung, der Strand, der Himmel. Es war ein neues, angenehmes Gefühl, zur Abwechslung einmal völlige Leere im Kopf zu spüren, in die der Wind pfiff und mich mit Meeresgeräuschen anfüllte, und mit sonst nichts.
Am Abend war ich enttäuscht, als ich in die Hotelbar kam und sie nahezu leer vorfand. Zum Abendessen hatte es walisischen Lammeintopf und köstliche regionale Käsesorten gegeben, und jetzt war ich bereit, es mir mit meinem Buch und einem weiteren Glas Merlot im Schmugglernest gemütlich zu machen. Aber die romantisch-geheimnisvolle Stimmung vom Vorabend hatte sich verflüchtigt. Tom, der große, rot getigerte Kater, lag ausgestreckt auf der Theke, und seine Gefährtin war nirgendwo zu sehen. Ein gut situiertes grauhaariges Pärchen mit gebräunten Segler-Gesichtern hielt Kaffeebecher in den Händen und hatte sich mit farblich passenden Berghaus-Jacken aneinandergekuschelt, aber sonst waren keine Gäste in der Bar. Nach einem weiteren Glas Wein beschloss ich, loszuziehen und die umliegenden Pubs zu erkunden. Warum auch nicht? Ich war eine erwachsene Frau, die auf sich selbst aufpassen konnte.
In einen überlangen gestreiften Schal gewickelt marschierte ich die unbeleuchtete Landstraße entlang und erreichte nach mehreren Hundert Metern die Ausläufer des nächsten Dorfs. Ein halb zerfallener, von Sand und Wind gebleichter Burgfried ragte über die im Wind raschelnden Bäume, und über allem leuchtete der Mond, der auf den vorbeiziehenden Wolken zu reiten schien. Ich fühlte mich an ein Gedicht von Alfred Noyes erinnert, das wir in der Schule durchgenommen hatten. Es handelte von einem Straßenräuber, der auf seinem Pferd über das windgepeitschte Moor zu seiner Geliebten unterwegs ist, während über ihm der Mond über den Sturmhimmel reitet. Auch zu dieser Landschaft und dem wunderbar windigen Abend hätte ein berittener Straßenräuber gut gepasst.
Unterhalb der massiven Burgmauern funkelten mir die Lichter eines alten Pubs einladend entgegen. Das Mochyn Ddu wurde ebenfalls im Cool Cymru -Führer beschrieben: »anspruchsvolle kulinarische Köstlichkeiten und regionale Biersorten bei gemütlichem Kerzenschein«. Vom Messingtürklopfer bis zu den viktorianischen Buntglasfenstern sah der Pub tatsächlich aus wie einem Reiseprospekt entsprungen. Zögernd blieb ich vor der Tür stehen. Ich war noch nie abends allein in einem Pub gewesen, es sei denn, um auf eine Freundin zu warten, die sich verspätet hatte. Aber ich nahm all meinen Mut zusammen und machte die Tür auf.
Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass sich etwas grundlegend verändern würde, sobald ich über die Schwelle trat, dass ich mich auf einen Handel mit dem Schicksal einließ, während die Burg würdevoll auf mich herabblickte und der Wind abwartend verstummte. Ich kam mir vor wie die Heldin eines Märchens. Es war einmal eine junge Frau, die sich sagte: Ach, was soll’s? Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Fortan lebte sie glücklich und zufrieden an einer abgelegenen Küste, und zwar ohne ihren Verlobten, diese verlogene Ratte.
Was schadete es, hier ein Bier zu trinken, bevor ich zurück auf mein Zimmer ging, um dort erneut meinen Frust in Wein zu ertränken? Was konnte mir an einem so schönen Ort in einer so schönen Nacht schon passieren?
Im Inneren des Pubs war es voll und laut. Paare mittleren Alters und Grüppchen junger Leute drängten sich um die kleinen Tische oder standen an der Bar, wo sie sich lachend und gestikulierend unterhielten. Während ich mir meinen Weg zur Theke bahnte, stand er plötzlich vor mir: Mr Ich-bin-Surfer-und-interessiere-mich-für-Literatur. Genau wie am Vorabend trug er Pullover, Flip-Flops und zerzaustes Haar, und in mir erwachte eine unerhörte, völlig irrationale Freude. Natürlich war von Anfang an er der Grund für meinen Ausflug ins Dorf gewesen, das war mir durchaus klar. Den ganzen Tag hatte ich mich danach gesehnt, ihn wiederzusehen. Ich hoffte, dass mein Gesicht nur freundliche Aufgeschlossenheit signalisierte und nicht verriet, dass ich innerlich vor Begeisterung Purzelbäume schlug. Er gab mir mit einem kurzen Lächeln zu verstehen, dass er
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