Der Preis des Schweigens
mich erkannt hatte, und ich lächelte leicht beschwipst zurück und dankte den Schicksalsgöttern dafür, dass sie auch ihn an diesen Ort geführt hatten.
Wieder schien ich mir selbst von außen dabei zuzusehen, wie ich mich ihm windzerzaust und mit einem souveränen Lächeln auf den Lippen näherte, wie ich mit wehendem Schal und einem Glorienschein aus dunkelblonden Haaren um seine Aufmerksamkeit buhlte, wie meine Augen im Kerzenschein funkelten, dramatisch und verwegen.
Eine einzige Nacht kann vieles verändern, dessen war ich mir vage bewusst, aber ich hatte keine Angst davor. Ich wollte , dass etwas passierte, etwas, was nichts mit jenem verhängnisvollen Anruf zu tun hatte, mit dem Klang von Sophies Stimme oder dem Ausdruck auf Dans Gesicht. Ich wollte endlich etwas erleben, was nicht vorhersehbar und banal war.
Mein Wunsch wurde mir erfüllt. Ich sollte tatsächlich etwas erleben. Und wenn ich aufmerksam die Ohren gespitzt hätte, hätte ich vielleicht gehört, wie sich die Schicksalsgötter ins Fäustchen lachten.
2.
I ch bin die gute Fee, die alle Wünsche erfüllt«, antwortete ich und rief das Tagesprotokoll auf meinem Bildschirm auf, um Einblick in den neuesten polizeilich erfassten Vorfall zu erhalten. Mit der linken Hand versuchte ich die Klimaanlage anders einzustellen, die neuerdings unentwegt auf höchster Stufe zu laufen schien und sich nicht mehr herunterfahren ließ. Meine Finger fühlten sich an wie Eiszapfen, und ich hätte mich nicht gewundert, wenn ich eine Atemwolke vor meinem Mund gesehen hätte.
» Was sind Sie?«, fragte Jack verwirrt und ein wenig eingeschnappt. Seine Stimme am anderen Ende der Leitung war nicht mehr weit von der üblichen gereizten Weinerlichkeit entfernt.
Mir ging auf, dass ich laut gedacht hatte. Aber Jack würde sowieso gleich weiterschwadronieren, daher konnte ich mir eine Antwort sparen.
»Ein bisschen gesunder Menschenverstand würde mir schon reichen!«, polterte er. »Ich brauche die Informationen so schnell wie möglich. Ich habe eine Deadline einzuhalten, wie Sie vielleicht wissen.«
Natürlich wusste ich das. Journalisten haben immer Deadlines. Meinen Job gibt es überhaupt nur, weil Pressevertreter Deadlines einzuhalten haben.
Jack arbeitete bei der Nachrichtenagentur NewsBeatWales, weshalb wir ihn Jack NewsBeatWales nannten. Ich hasste seinen zackigen »Kommen wir zur Sache, ich bin furchtbar beschäftigt und natürlich wahnsinnig wichtig«-Tonfall. Wenn ich den Hörer abnahm, dauerte es meist keine drei Sekunden, bis seine Forderungen auf mich einprasselten, noch bevor ich die vorgeschriebene Begrüßung zu Ende gesprochen hatte: »Polizeipressestelle, guten Morgen.«
Es war Donnerstag. Ich war seit fünf Tagen aus dem Watch-House zurück und seit vier Tagen wieder bei der Arbeit. An diesem Morgen hatten wir uns bereits mit Presseanfragen bezüglich zweier plötzlicher Todesfälle, vier Autounfällen, einer Evakuierung wegen eines Gaslecks und eines großen Pädophilen-Prozesses herumgeschlagen, der um 10 Uhr im Gericht begann. Außerdem waren wir unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz gefragt worden, wie viel der Betrieb des Polizeihelikopters den Steuerzahler monatlich kostete. Zusätzlich hatte ich sechs weitere Vorfälle auf meinem Notizblock stehen, die ich für verschiedene Journalisten recherchieren musste, die natürlich alle einen mehr oder minder drängenden Abgabetermin einzuhalten hatten. Business as usual also.
Zwei Minuten bevor ich laut gedacht und mich als gute Fee bezeichnet hatte, hatte Jack zum dritten Mal in der letzten halben Stunde angerufen, um herauszufinden, ob bereits eine Ursache für das vorzeitige Ableben des siebenundzwanzigjährigen Craig Michael Brockway aus Slipways, Cardiff Bay, feststand.
Ich wusste längst, dass sich Mr Brockway in der Wohnung seines Lebensgefährten Philipp im begehbaren Kleiderschrank erhängt hatte, mithilfe der Krawatte seiner ehemaligen Schuluniform, und dass er in der örtlichen Rugbymannschaft gespielt hatte. Im Schlafzimmer waren »Drogenutensilien« gefunden worden, wie die Medien es gerne nannten. Eine gute Story.
Aber bisher kannte nicht einmal Mr Brockways Familie die Einzelheiten, jedenfalls nicht alle. Der Selbstmord war erst vor einer Stunde entdeckt worden. Offenbar wusste die Familie noch nicht einmal von Philipp, dem Lebensgefährten . Aber auch so hätte ich meine Informationen niemals an »Jack NewsBeatWales« weitergegeben, bis die offizielle Pressemitteilung
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