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Der Planet des Todes

Der Planet des Todes

Titel: Der Planet des Todes
Autoren: Stanislaw Lem
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an, „fünf Uhr früh.“
    „War in der Nacht nichts zu hören?“
    Ich wußte genau, daß unsere Gefährten, selbst dann, wenn sie uns suchten, uns nicht finden würden; aber ich fragte trotzdem.
    „Nein.“ Arsenjew stand auf.
    „Wohin gehst du denn?“
    „Ich seh mir den Felsen an.“
    Seine Schritte verhallten, dann wurde es still, sehr lange … Der unbeweglich runde Strahlenkegel von Arsenjews Reflektor erleuchtete den Felsschlund nur bis zur Biegung und schimmerte als schmaler Lichtstreif zu mir herüber. Große flache Schatten hingen wie vertrocknete Fledermäuse an der Decke. Mich packte die Angst. Ich rief. Die Schritte kehrten zurück.
    „Was ist denn los?“
    Ich antwortete nicht. Nun, da es wieder hell um mich war, atmete ich tief auf. Ich erhob mich und begann hin und her zu gehen, von der einen Seite der Grotte zur anderen.
    „Setz dich hin“, sagte Arsenjew, „du machst dich unnütz müde. Außerdem verbrauchst du mehr Luft, wenn du dich bewegst.“
    „Ich will ja mehr verbrauchen!“ rief ich. Sein Gleichmut reizte mich. Ich mußte mich zwingen, ruhig zu bleiben. Ich setzte mich wieder hin.
    Arsenjew brachte seinen Skaphander in Ordnung, er strich Falte für Falte glatt, lockerte die Riemen und zog alles, was er in den Taschen hatte, heraus. Ein Täfelchen Traubenzucker, ein Notizbuch, Streichhölzer, den Elektrometer und einen kleinen Revolver, der wie ein Spielzeug aussah. Er trug ihn stets bei sich; denn es war ein Geschenk, das ihm jemand vor dem Abflug überreicht hatte, mit der scherzhaften Widmung: „Zur Jagd auf das Venuswild.“
    Arsenjew wog den Traubenzucker auf der Hand.
    „Hast du noch deinen?“
    „Nein, ich hab ihn schon im Wagen gegessen.“
    „Schade.“
    Dieses Bedauern wegen einer Handvoll Zucker wunderte mich. Ich wollte ihm schon eine bittere Antwort geben, besann mich aber und schwieg. Arsenjew nahm eine Patrone aus dem Revolver. Ich glaubte zu wissen, was er im Sinn hatte.
    „Das nützt nichts“, sagte ich. „Damit kann man das Fulgurit nicht entzünden.“
    Arsenjew schaltete seinen Reflektor ein. Der leuchtete nur noch schwach. „Meine Batterie macht auch nicht mehr lange“, sagte er.
    „Schalte das Licht aus!“
    Wieder umgab uns die Finsternis wie eine Mauer. Ich hatte das Gefühl, als wäre mein Körper endlos, als ginge er ohne jede Begrenzung in das Dunkel über. Grüne Flecke quollen unter meinen Lidern hervor, sanken als grelle Funken zu Boden. Leise tickte die Uhr. Die Stunden verrannen: neun, zehn, elf …
    Plötzlich fragte Arsenjew so unerwartet, daß ich zusammenschrak: „Wen hast du auf der Erde?“
    Ich überlegte eine Sekunde, es war schon alles so weit, so fern. „Meinen Vater.“
    „Sonst niemanden?“
    „Niemanden.“
    „Ich habe dort meine Frau, du weißt ja …“ Hastig fuhr er fort. Ich sollte wohl nicht glauben, er sage dies aus Sorge und Leid. „Ich habe nämlich gerade eine Berechnung durchgeführt, und dabei mußte ich an sie denken. Als ich sie kennenlernte, unterhielten wir uns nur über Mathematik. Ich arbeitete damals an meiner Dissertation und hatte eine bestimmte Idee, die Theorie der pulsierenden Sterne. Ich erzählte ihr davon.“ Arsenjew verstummte eine Weile, als wunderte er sich selbst darüber, daß er soviel sprach. „Einmal saßen wir im Garten des Observatoriums und lasen in einem Buch, das von den Bewohnern anderer Welten handelte. Du kennst es sicher nicht; es ist ein sehr altes Buch, von dem Franzosen Flammarion. Es war ein Juliabend, die Dämmerung brach an. Wir blätterten gemeinsam die Seiten um. Das Papier wurde immer grauer, und wir lasen immer noch – so wie man nur in der Jugend lesen kann … Erst als die letzten Worte vor unseren Augen verschwammen, hoben wir den Kopf. Über uns war der Himmel und darin die Sterne und jene Welten, die uns aus den Seiten des Buches erstanden waren … Damals …“
    Er stockte.
    „Pjotr?“ Hatte er nicht leise noch etwas vor sich hingemurmelt? „Was hast du gesagt, Pjotr?“
    Plötzlich sprach er mit ruhiger, beinahe verträumter Stimme: „Wenn ich noch einmal ihr Gesicht berühren könnte …“
    „Hör auf!“ schrie ich. „Hör auf!“
    Er verstummte. Bis jetzt hatten mich keine Gesichte heimgesucht, keine Gedanken oder Erinnerungen. Ich spürte weder Angst noch Verzweiflung, nur eine ständig wachsende, innere Anstrengung, als wäre mir eine schwere Last aufgebürdet, die mich zu erdrücken drohte. Ich war wie ein Mensch, der einen Sack voll greulicher
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