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Der Pfeil der Rache

Der Pfeil der Rache

Titel: Der Pfeil der Rache
Autoren: C.J. Sansom
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Baraks Haus.
    * * *
    Er öffnete die Tür, einen Becher Bier in der Hand. Er war ungekämmt, sein Blick stier. Von der geschlossenen Tür des Schlafzimmers am anderen Ende des Flurs hörte ich Schmerzensschreie.
    Barak zog mich ins Haus. Er sank auf die kleine hölzerne Bank im Flur. Ich sagte: »Ist Guy –«
    »Mit ihr dort drin. Ich war kaum eine halbe Stunde hier, als ihr das Wasser brach. Es wäre doch erst in knapp zwei Wochen fällig gewesen. Das letzte Mal kam das Kind zum rechten Zeitpunkt.«
    »Wo ist Gevatterin Marris?«
    »Mit Guy im Zimmer. Sie haben mir die Tür vor der Nase zugeschlagen.«
    »Hier –« Ich nahm ihm den Becher aus der Hand, denn er gestikulierte so wild, dass ich befürchtete, er könne das Bier verschütten. »Was hat Guy gesagt?«
    »Er meinte, es sei zu früh, mehr nicht. Gevatterin Marris hatte Angst und lief, ihn zu holen –«
    »Nun, die Zweiten kommen zu früh, das weißt du doch.«
    Ich warf einen bangen Blick auf die geschlossene Tür, hinter der noch immer Schreie zu hören waren.
    »Die Schreie bedeuten doch nur, dass das Kind unterwegs ist –«
    Er sagte wild: »Wenn ihr etwas zustößt, ich könnte es nicht ertragen, ich würde mich wieder dem Suff ergeben – sie ist mein Alles –«
    »Ich weiß, ich weiß.«
    »Ist mir einerlei, wenn es ein Mädchen wird –« Er verstummte jäh. Die Schreie hatten aufgehört. Es folgte ein langer, entsetzlicher Moment der Stille. Dann, schwach zunächst, vernahmen wir einen anderen Laut, den klagenden Schrei eines Säuglings. Barak sperrte den Mund auf. Die Tür ging auf, und Guy kam heraus. Er rieb sich die Hände an einem Tuch trocken und lächelte.
    »Jack, du hast einen feinen, gesunden Sohn.«
    Er sprang auf, rannte auf Guy zu und packte seine Hand. »Danke! Danke!« Er keuchte vor Erleichterung.
    »Dank Tamasin. Sie hat die Arbeit getan. Es war ganz leicht am Schluss –« Aber Barak war schon an ihm vorbeigerannt, ins Zimmer. Ich folgte ein wenig langsamer.
    Gevatterin Marris stand am Bett und hielt eine kleine, in Windeln gehüllte Gestalt im Arm. Barak warf sich über Tamasin.
    »Vorsicht, Dummkopf«, sagte sie sanft. Sie lächelte, streichelte ihm über den Scheitel. »Geh und schau dir deinen Sohn an.«
    Er ging zu seinem Kind. Guy und ich blickten der Gevatterin über die Schulter. »Ist er nicht – prachtvoll?«, sagte Barak. Vorsichtig nahm er eine der winzigen Hände in die seine.
    »O ja«, pflichtete ich ihm bei, obwohl für mich alle Säuglinge absolut gleich aussahen, wie kleine Greise. Doch er schien bei guter Gesundheit zu sein, denn er brüllte aus Leibeskräften. Er hatte einen blonden Flaum, wie Tamasin.
    Barak wandte sich besorgt an Guy. »Er
ist
doch gesund?«
    »Ein gesünderes Kind habe ich nie gesehen.«
    Barak sah sich erneut seinen Sohn an. »Denkt nur«, sagte er leise. »Er lebt vielleicht lange genug, um ein neues Jahrhundert zu sehen. Denkt nur, denkt doch nur.«
    »Dein John«, sagte Tamasin leise von ihrem Bett aus.
    Barak überlegte kurz, sah mich an und sagte: »Tammy, bist du böse, wenn wir ihm einen anderen Namen geben?«
    »Welchen denn?«, fragte sie überrascht.
    »Er soll George heißen«, antwortete er sanft. »Wie unser erstes Kind. George Llewellyn Carswell.« Er sah mich an. »Zur Erinnerung.«

epilog
    November 1545 – Vier Monate später
    E in kalter Wind fegte durch den Friedhof. Die letzten Blätter waren gefallen und wirbelten mir wispernd um die Füße. Ich schlug den Mantel fest um mich, als ich auf die Kirche zuhielt. Der Winter war gekommen.
    Vor Joans Grab hielt ich inne und legte eine letzte Rose aus meinem Garten vor den Grabstein. Ich blieb einen Augenblick lang stehen und fragte mich, was sie wohl gedacht hätte von den Ereignissen in diesem Sommer in meinem Haus. Ich hatte noch immer keinen Steward; zwar hatte ich mehrere Männer befragt, doch keiner besaß das nötige Zartgefühl, um mit Josephine umzugehen. Es ging ihr schon viel besser, aber der geringste Fehler, den sie machte, die kleinste Kritik brachte ihre Unbeholfenheit zurück. Gelegentlich, wenn ich vom Lincoln’s Inn heimkehrte, blickte sie mit einem seltsam gespannten Ausdruck hinaus auf die Straße. Sie hielt wohl Ausschau nach Coldiron, mit einer merkwürdigen Mischung aus Angst und der Sehnsucht nach Geborgenheit.
    Ich war wieder zu meinen Pflichten zurückgekehrt, dankbar für die Routine. Doch zuweilen, wenn ich müde war, hatte ich noch immer jenes entsetzliche Gefühl, als gerate der
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