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Der Pfeil der Rache

Der Pfeil der Rache

Titel: Der Pfeil der Rache
Autoren: C.J. Sansom
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Männer meines Standes gegen die hohen Steuern wetterte, verfügte ich noch immer über ausreichend Geld, um Essen auf den Tisch zu bringen. Warum ließen wir uns allesamt vom König auspressen wie die Zitronen? Ganz einfach: weil die Angst vor der Invasion noch größer war.
    Ich ritt die Poultry hinunter. An der Ecke zur Three Needles Street stand in den hellblauen Kitteln ein halbes Dutzend Lehrburschen, die Hände am Gürtel, und warf bedrohliche Blicke auf die Passanten. Ein vorübergehender Konstabler schenkte ihnen keinerlei Aufmerksamkeit. Nachdem sie noch bis vor kurzem die Plage der Obrigkeit gewesen waren, galten sie jetzt als höchst willkommener zusätzlicher Schutz gegen feindliche Spione. Von solchen Burschen war auch Guys Apotheke verwüstet worden. Als ich am Bishopsgate erneut die Stadtmauer passierte, fragte ich mich bitter, ob ich in ein Tollhaus unterwegs war oder eines hinter mir ließ.
    * * *
    Ich war Ellen Fettiplace vor zwei Jahren zum ersten Male begegnet. Damals hatte ich einen Mandanten besucht, einen jungen Burschen, der von religiösem Wahn befallen, im Bedlam eingesperrt gewesen war. Zunächst war Ellen mir gesünder erschienen als die übrigen Insassen. Man hatte sie sogar mit bescheidenen Pflichten betraut, hatte ihr die Versorgung einiger Mitpatienten überlassen, um die sie sich rührend kümmerte, und ihr Einfluss war nicht unerheblich gewesen für die rasche Genesung meines Mandanten. So hatte ich mit einigem Erstaunen von der Art ihres Leidens erfahren – eine entsetzliche Angst, die sie befiel, sobald sie auch nur einen Fuß vor die Tür des Tollhauses setzte. Ich war selbst einmal Zeuge ihrer wilden, ungebärdigen Furcht geworden. Ellen dauerte mich noch mehr, als ich die Ursache ihrer rasenden Angst erfuhr: Jemand hatte sie unweit ihres Vaterhauses in Sussex überfallen und ihr Gewalt angetan. Damals war sie sechzehn Jahre alt gewesen; jetzt war sie fünfunddreißig.
    Nachdem mein Mandant aus dem Bedlam entlassen worden war, bat Ellen mich, sie bisweilen zu besuchen und ihr zu berichten, was es in der Welt draußen Neues gab. Ich wusste, dass niemand sonst sie besuchte, und erklärte mich unter einer Bedingung dazu bereit: Sie sollte sich von mir helfen lassen, vor die Tür zu gehen. Seit damals hatte ich unzählige Strategien erprobt, sie bekniet, doch wenigstens einen Schritt vor die offene Tür zu tun, hatte ihr versprochen, Barak und ich würden sie in die Mitte nehmen, sie ermuntert, mit geschlossenen Augen hinauszugehen – Ellen jedoch hatte das Wagnis immer wieder hinausgezögert und mich mit einer schlauen Beharrlichkeit vertröstet, welche die meine bei weitem übertraf.
    Und allmählich hatte sie jene Schläue, ihre einzige Waffe in einer feindlichen Welt, anderweitig genutzt. Zunächst hatte ich versprochen, sie »von Zeit zu Zeit« zu besuchen, doch sie hatte die Formulierung mit geradezu juristischer Raffinesse zu ihren Gunsten zurechtgebogen, indem sie mich veranlasste, einmal im Monat zu kommen, dann alle drei Wochen, da sie nach Neuigkeiten lechze, dann alle zwei. Versäumte ich einen Besuch, erreichte mich umgehend die Nachricht, sie liege krank darnieder; eilte ich dann hastig zu ihr, hatte sie sich wie durch ein Wunder erholt, saß fröhlich am knisternden Feuer und beruhigte irgendeinen verstörten Insassen. Und in den vergangenen Monaten hatte es mir endlich gedämmert, dass das Problem eine weitere Komponente hatte, die ich längst hätte erkennen müssen. Ellen war in mich verliebt.
    * * *
    Die Leute hielten das Bedlam für eine finstere Festung, in der Geisteskranke kettenrasselnd hinter Gitterstäben ächzten. Einige waren in der Tat angekettet, viele ächzten auch, doch die graue Steinfassade des langen, niedrigen Bauwerks hatte durchaus ihren Reiz. Man näherte sich der Pforte über einen breiten Innenhof, der heute leer war bis auf einen hochgewachsenen, mageren Mann im schmutzigen grauen Wams. Er ging beständig im Kreis herum, wobei er den Boden fixierte und in einem fort die Lippen bewegte, ohne einen Laut von sich zu geben. Er war offenbar ein neuer Insasse, vermutlich aus wohlhabendem Hause, der den Verstand verloren hatte und dessen Angehörige die Gebühren aufbringen konnten, ihn hier verpflegen zu lassen, wo er ihnen nicht im Wege war.
    Ich klopfte an die Tür. Und sogleich ließ Hob Gebons, einer der Wärter, mich ein, einen großen Schlüsselbund am Gürtel. Gebons, ein feister, stummelkurzer Mann in den Fünfzigern, war nur ein
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